Stephen Hawking ist es gelungen, wie wohl kaum einem theoretischen Physiker zuvor (ausgenommen vielleicht Einstein), in das Bewußtsein einer breiteren Bevölkerungsgruppe einzudringen. Er gilt geradezu als die Ikone der relativistischen Astrophysik. Unter den Fachleuten, die die Bewunderung für den gelähmten Physiker durchaus teilen, ist sein Name speziell mit den mathematischen Theoremen über allgemein relativistische Raumzeiten verbunden, die er in den sechziger und siebziger Jahren zusammen mit seinem Freund Roger Penrose gefunden hat.
Sein jüngstes populäres Werk versucht mit einem Maximum an didaktischer Aufbereitung einen Querschnitt über die gegenwärtige Forschungsfront in den spektakulären Bereichen der Physik zu geben. Mit einem Bildmaterial von hoher Eindringlichkeit führt Hawking seine Leser erst einmal in die Relativitätstheorie ein: Äquivalenzprinzip, Raumzeit-Krümmung, Lichtablenkung, alles wird gut illustriert, elementar verständlich gemacht. Zwischendrin neigt Hawking, wie in früheren Büchern auch, zu wissenschaftstheoretischen Exkursen. Hier möchte man ihm allerdings gerne einen Berater wünschen. Drei unvereinbare Wissenschaftsphilosophien verknäult er zu einem Wirrwarr: den Pragmatismus, den Positivismus und Karl Poppers kritischen Rationalismus. Daß letzterer kein Positivist ist, sondern denselben schlüssig widerlegt hat, sollte Hawking einmal von einem guten Freund gesagt bekommen. Popper für den im zweiten Kapitel über die Zeit verteidigten Modellrelativismus und Antirealismus verantwortlich zu machen, ist nicht nett. Abgesehen davon verteidigt heute kein lebender Wissenschaftsphilosoph mehr einen derartig kruden Positivismus.
Aber diese philosophische Schieflage wirkt sich für den sachhungrigen Leser nicht wesentlich aus. Manche Veranschaulichungen, wie etwa den Teilchen-Spin durch die Rotationssymmetrien von Spielkarten, sind raffiniert und überraschend. Etwas unvermittelt tauchen im Zeit-Kapitel die Einheitlichen Theorien auf. Das Begriffsarsenal der Superstringtheorien wird dabei nur kurz angesprochen, aber kaum erklärt. Der Leser ist hier gut beraten, das Buch von Brian Greene Das Elegante Universum zur Hand zu nehmen, das besser und vollständiger den komplizierten Apparat der M-Theorie aufbereitet.
Im dritten, im wesentlichen kosmologischen Kapitel wird, wunderschön bebildert, das Standard-Urknallmodell vorgeführt. Dort verficht dann Hawking auch, diesmal ohne positivistische Relativierung, den Vollständigkeitsanspruch der Naturwissenschaft. 'Wir müssen uns bemühen, den Anfang des Universums mit den Mitteln der Naturwissenschaft zu begreifen' (S. 87). Jedenfalls wäre es auch eine Lösung der Anfangsfrage, wenn es diesen Anfang gar nicht gäbe und das Universum, wie Hawking und Hartl 1986 vorgeschlagen haben, zeitlos, randlos und ohne Singularitäten bestehen würde.
Während das vierte Kapitel schwerpunktmäßig der Raumzeit- und Kausalstruktur Schwarzer Löcher gewidmet ist, kommt im fünften Abschnitt die Problematik ins Blickfeld, die - obgleich bizarr - dennoch Rückhalt in Einsteins Gravitationstheorie hat, nämlich Zeitreisen. In der Wissenschaftsphilosophie haben Analytiker schon seit geraumer Zeit zu klären versucht, ob man Reisen in die eigene Vergangenheit rein logisch ausschließen kann oder ob diese de facto in unserem Universum einfach nur nicht vorkommen. Durch die Möglichkeit, Teile des Raumes durch topologisch mehrfach zusammenhängende Kanäle (Wurmlöcher) zu verbinden, haben sich neue Aspekte der ominösen Zeitmaschinen ergeben. Das exotisch erscheinende Problem hat Relevanz für die Natur der Zeit. Wenn Zeitschleifen niemals vorkommen, sollte man wissen warum.
Danach verläßt Hawking erst einmal den Bereich der Physik und widmet sich der Welt des Komplexen. Er verteidigt eine recht optimistische Sicht der zu erwartenden Steigerung der Intelligenz durch künstliche Implantate, und auch bezüglich der zu erwartenden intelligenten Computerleistung äußert er sich recht hoffnungsfroh. Allerdings in bezug auf den Überlebenswert von Intelligenz zeigt sich Hawking berechtigterweise skeptisch. Das ist eine Haltung, die auch von vielen Neurowissenschaftlern heute geteilt wird, die die Hyperzerebralisierung evolutionsbiologisch als eine nicht langzeitstabile Hypertrophie ansehen.
Zuletzt kehrt Hawking wieder in sein angestammtes Arbeitsgebiet zurück und spekuliert ein wenig darüber, wie die Entdeckungsreise der Physik weitergehen könnte. Momentan steht dabei die Physik des submikroskopischen Bereichs, die Physik auf der Planck-Skala von 1,6 x 10-33 cm, völlig im Blickfeld. Dort hat sich ein Theorientypus etabliert, der neben der Frage nach den letzten Bausteinen der Materie auch ein philosophisches Rätsel lösen könnte, nämlich das Dimensionsproblem: Warum hat die Raumzeit unserer Welt ausgerechnet 3+1 Dimensionen, nicht mehr und nicht weniger? Das Superstringkonzept mit der Idee, daß wir auf dem Rand (einer sogenannten Branwelt) einer höherdimensionalen Raumzeit leben könnten, mag hier eine erste Antwort geben.
Insgesamt bietet das Buch einen guten Überblick vor allem über die spekulativen Teile der gegenwärtigen theoretischen und mathematischen Physik. Von den vielen konkurrierenden Ideen können nicht alle überleben, aber für den wachen Geist, der am intellektuellen Leben der gegenwärtigen Naturwissenschaften teilnimmt, ist es zweifellos ein Vergnügen, auf dem Wege der Erkenntnis ein bißchen mitzudenken.