Das romantische Paradigma der Chemie

Ralf Liedtke hat sich als Autor des Buches Die Hermetik einen Namen gemacht, dem als Motto ein Zitat aus Novalis: Das Allgemeine Broullion (1798/99) vorangestellt ist. Die Beschäftigung mit Novalis in diesem neuen Buch ist folglich eine logische Fortsetzung seiner früheren Arbeit.
Friedrich von Hardenberg, genannt Novalis (1772-1802), gehört zu den nicht gerade häufigen Autoren, die nicht nur Poeten waren, sondern sich intensiv mit Philosophie und Naturwissenschaften beschäftigten. Novalis war Salinenassistent, das bedeutete, daß er Chemie ' an der Bergakademie Freiberg ' studiert hatte.
Novalis lebte in der Zeit des Übergangs von der Alchemie zur modernen Chemie. Die neuartige Erklärung der Verbrennung als Aufnahme von Sauerstoff von Lavoisier kann als Beginn der modernen Chemie betrachtet werden, doch ist diese Theorie nicht geschichtslos. Die Sauerstofftheorie wäre ohne die von Alchemisten aufgestellte Phlogistontheorie kaum möglich gewesen. Die Suche nach dem Phlogiston, dem Feuerstoff, der bei der Verbrennung entweichen soll, führte zur Untersuchung der Gase und auch Lavosier suchte zunächst nach dem Phlogiston. Das 1. Kapitel: 'Die Chemie als Paradigma des Wandels' ist so spannend zu lesen, daß es jedem, der sich für die Geschichte der Chemie interessiert, nur empfohlen werden kann. Dies gilt auch für das zweite Kapitel: 'Exkurs: Od - Licht - Weltseele - Chaos: Der Fehler im System'. Od entspricht dem Prana der Inder und dem Chi der Chinesen und wurde von Baron Reichenbach als eine Art universelle Lebenskraft eingeführt. Liedtke weist auch auf die gesellschaftliche Komponente der Wissenschaftsgeschichte hin. So war die französische Schule der Chemie um Lavoisier, wie er ausführt, mit fortschrittlichen, aufklärerischen Vorstellungen verbunden, die deutsche Schule, die noch der Phlogistontheorie anhing, mit konservativen.  
Liedtke hatte die Möglichkeit, noch nicht ausgewertete Schriften von Novalis für seine Untersuchung verwenden zu können. Und damit wird es spannend, denn Novalis versuchte einen 'Dritten Weg' zwischen Naturphilosophie und moderner Chemie zu entwickeln. Das 3. Kapitel: 'Der dritte Weg '  Novalis und das Paradigma der Chemie' beschäftigt sich mit diesen Ideen des Novalis. Sein früher Tod muß auch gerade hier als tragisch bezeichnet werden, denn eine weitere Entwicklung seiner Ideen wäre für uns heute äußert wichtig gewesen. Keiner seiner Zeitgenossen nahm seine Ideen auf, sie blieben ohne Nachwirkung. Liedtke arbeitet diese Vorstellungen auch in ihrer Bedeutung für unsere Zeit heraus.
Seinem Fazit kann vom Rezensenten nur zugestimmt werden: 'Selbst wenn Novalis nicht präzise die ungeheure Relevanz des analogen, blitzschnell abschätzenden und vernetzenden Denkens für die heute so kulturtragende Mensch-Maschine-Kooperation bestimmen konnte, mindert dies nicht den Wert seiner offenbar in Freiberg gewonnenen echten Fundamentaleinsicht, daß nur Menschen in die naturwissenschaftlich-technische Welt ästhetische, ethische und religiöse Werte ' kurzum Qualität, genauer Lebensqualität einbringen können.'
Leider wird die Lektüre des Buches dadurch erschwert, daß griechische und lateinische Worte und Ausdrücke nicht ins Deutsche übersetzt wurden, es kann nicht mehr vorausgesetzt werden, daß alle Leser, die an dieser Arbeit interessiert sind, diese Sprachen können.
Der Anhang, in dem die nicht leicht zugängliche Alchemiediskussion in der Tagespresse in den Jahren 1796-1802 dokumentiert wird, die gerade auch Novalis beeinflußt haben dürfte, rundet das Buch ab.