Geschichte der Hirnforschung von der Antike bis zur Gegenwart

Pünktlich zum Abschluß der von der WHO proklamierten Dekade des Gehirns hat Erhard Oeser eine kurze Geschichte der Hirnforschung vorgelegt. Der Autor ist auf diesem Gebiet kein Unbekannter, hat er doch bereits in den 1980er Jahren zusammen mit dem Neuropathologen Franz Seitelberger Arbeiten zu dieser Thematik verfaßt. Die aus der Sicht des Philosophen und Wissenschaftstheoretikers zusammengestellte Geschichte der Hirnforschung ist über weite Strecken eine Geschichte der Erkenntnistheorie.
Angefangen von den spekulativen, nicht durch Schrift belegten Zeugnissen einer Beschäftigung des Menschen mit seinem Gehirn, führen seine Ausführungen zunächst durch die antike Rezeption von 'Geist und Seele', die auch zur damaligen Zeit teils schon auf beachtlich detaillierten anatomischen Erkenntnissen fußte. Seine Betrachtungen gehen dann über die so genannte Zellenlehre des Mittelalters zu den ersten anatomischen und physiologischen Studien der Neuzeit, welche exemplarisch an den Beispielen von Leonardo da Vinci, Thomas Willis und William Harvey dargelegt werden. Diese makroskopischen, teils mit unzähligen Tierexperimenten untermauerten anatomischen Untersuchungen mit ihrer funktionellen Ausrichtung werden bis in die Zeit der Romantik weiterbeschrieben und in ihrer Zeit gedeutet. Makaberer Höhepunkt dieser 'Experimente' sind die Idee der Guillotine und die physiologischen Untersuchungen an abgetrennten Köpfen zur Zeit der französischen Revolution. Dem 19. Jahrhundert ist entsprechend der dramatischen Fortschritte auf dem Gebiet der Hirnforschung auch das größte Kapitel eingeräumt. Beginnend mit den galvanischen Versuchen aus dem Umfeld Alexander von Humboldts finden sich eingehende Beschreibungen der lokalisationstheoretischen Ansätze Galls und Spruzheims, welche als phrenologische Wissenschaft insbesondere den angelsächsischen Raum beeinflußten und im deutschsprachigen Raum eher parodiert und belächelt wurden.
Der empirischen Naturwissenschaft im Gefolge von Darwin, den die Phrenologie fast seine Teilnahme an seiner Weltumsegelung gekostet hätte, ist breiter Raum gewidmet, welcher die vergleichende Anatomie und vergleichende Physiologie beleuchtet. Der Verfasser geht hier auch auf die teils politisch-weltanschaulich oder national geprägten Ansätze einiger Forscher ein. Dem entsprechend werden auch die Problematik des 'Geborenen Verbrechers' von Caesare Lobrose oder des 'Assoziationsathleten Lenin' von Oskar Vogt berührt. Das letzte große Kapitel ist der mikromorphologischen Beschreibung des Gehirns gewidmet, welche mit Ramon y Cajal und Brodman die Ära der Neuronentheorie, Lokalisationstheorie und neuronalen Zellularpathologie einleitete. Diese noch heute in der Entwicklung befindlichen Themen leiten dann über zu ethischen Betrachtungen heute aktueller Experimente wie z.B. der Verpflanzung von embryonalen Stammzellen zur Heilung von degenerativen Erkrankungen des Nervensystems.
Ausgehend von der Hirntodproblematik schließt der Verfasser dann auch Überlegungen zur Hirntransplantation an, welche er sogar bis zur Verpflanzung artfremden Hirngewebes (wie ist es, eine Fledermaus zu sein?) ausdiskutiert. Aus der Sicht des klinisch tätigen Neuropathologen sind die Wechselwirkungen mit der biologischen Psychiatrie und der Neuroendokrinologie etwas knapp abgehandelt, wie auch das schlaglichtartig wirkende Literaturverzeichnis. Insgesamt gesehen ist die Monographie aber eine lesbare, allgemeinverständliche Einführung in die Gedankenentwicklung und damit verknüpfte Probleme der Hirnforschung, welche insbesondere durch das Hinterfragen zahlreicher (Tier-) Experimente und philosophischer Denkansätze einen hohen ethischen Anspruch erhebt. Angesichts des moderaten Preises bei verlagsgewohnt guter Ausstattung ist dem Band eine weite Verbreitung zu wünschen.