Anläßlich des 100. Todestages von Rudolf Virchow sind zahlreiche Publikationen über ihn und sein Lebenswerk neu erschienen oder neu aufgelegt worden. Besonders positiv zu werten ist, daß die wissenschaftliche Gesamtausgabe, herausgegeben vom Autor des hier besprochenen Werkes, nun beachtlichen Zuwachs erhalten hat. Das quasi als 'Nebenprodukt' seiner herausgeberischen Tätigkeit erschienene Buch ist jedoch schon für sich betrachtet eine wissenschaftshistorische Sensation. In dem Band, der Gundolf Keil gewidmet ist, beschreibt Andree anhand des Quellen- und Archivalienmaterials das Umfeld des jungen Virchow, der im Rahmen der Ereignisse 1848 seine Stellung als Militärarzt verlor und eine Professur in Würzburg für das Fach Pathologische Anatomie annahm. Der Autor geht sehr ausführlich auf den vorhandenen Bestand an Archivalien ein, insbesondere auch auf die Tatsache, daß viele dieser Dokumente noch nicht vidiert oder gar aufgearbeitet sind. Sicherlich ist hierbei die Tatsache mitentscheidend, daß die schwer lesbare Handschrift Virchows ' vom Direktor des Bundesarchivs in Koblenz in die schwierigste Kategorie eingestuft! ' viele mehr oder weniger ambitionierte Historiker vor große Probleme gestellt hat, was der Legendenbildung über diese Jahre in Virchows Vita Tür und Tor geöffnet hat. Der große Verdienst Andrees ist nicht nur der vollständig neue, nüchterne Ansatz in der Wertung dieser Zeit, sondern auch die editorische Auseinandersetzung mit Schrift und Kürzeln Virchows, welche er in einem angefügten Glossarium dem an Archivalien weniger geübten Leser bereitstellt. Mit teils scharf formulierter Kritik an früheren biographischen Ansätzen arbeitet der Autor klar heraus, daß Virchow nicht unbedingt der manchmal gerne zitierte radikale Revolutionär gewesen, sondern eher durch sein sozialmedizinisches Engagement und durch seine klar formulierten Anschauungen mehr oder weniger Opfer der Ereignisse geworden ist. Ein wahres Glanzstück ist jedoch die Herausgabe des Oberschlesischen Tagebuches, in dem Virchow ganz unmittelbar seine Eindrücke einer Inspektionsreise in die von Armut und Krankheit heimgesuchte preußische Provinz beschreibt. Dem Leser tritt hier ganz direkt der Eindruck des stets nüchternen und beobachtenden Sanitäts-Kommissionsmitglieds gegenüber. Aber gerade diese 'Unmittelbarkeit' läßt aufmerken: 'Erwachsene sehr dumm. Kennen keinen Reis. Essen nur Kartoffeln, wissen nicht viel mit dem Mehl zu machen, fast nie Fleisch [...] Branntweintrinken. Sagen, daß Gottes Strafe sei, da(ss) die Kartoffeln nicht mehr gerieten [...] Die Kinder häufig dicke Bäuche doch k(ein) skophulöses Ansehen. Meist blonde Haare, blaue Augen, frische Gesichtsfarbe. Z(um) Theil sehr schön In Lonkau viel aquasüchtige u(nd) atrophische Kinder [...] Einzelne Wohnungen so feucht, dass Pilze darin wuchsen. Der Fußboden v(on) Lehm, ungleich die Wände (mit) Lehm bestrichen [...] Das jüngste Alter, (ein Kind von 2 1/2 Jahren. Morph(ihum) acet(inum) gegen Schlaflosigk(e)it. Danach allein schon dauerndes Sinken d(es) Pulses. Eine Frau wendet (auf) ihre eigene Faust kaltes Wasser gegen Gliederschmerzen an. Abstoßen des Unterschenkels am Ende d(es) oberen Dritttheils nach Typhus, Bruch d(er) Knochen b(ei) Aufstehen aus dem Bett'. Benommen von solchen Eindrücken wird mancher Leser sich fragen, wie der Verfasser so gelassen bleiben und dabei noch Witterungsverhältnisse, Vegetation und Geographie beschreiben konnte. Überdies ist es für heutige Leser kaum noch vorstellbar, wie gefährlich es war, in einem Typhus-Epidemiegebiet eigenhändig (damals auch noch ohne Handschuhe) Obduktionen vorzunehmen und Kranke zu untersuchen. Die Liste der erkrankten und verstorbenen Ärzte der Kommission wirft darauf nur ein kleines Schlaglicht. Ausgestattet mit einem Literaturverzeichnis und einem ausführlichen, stets exakt recherchierten und teils subtil formulierten Fußnotenapparat ist diese kritische Ausgabe eine wissenschaftshistorisch herausragende Publikation, die manchen Leser für die, leider hochpreisige, Virchow-Gesamtausgabe begeistern kann. Ein eindrucksvolles, unmittelbares Buches, dessen Lektüre man sicherlich lange Zeit nicht vergißt.