Fin de Siècle

Der vorliegende, äußerst facettenreiche Sammelband ' ein Nachfolgeband zum 18. Jahrhundert (erschienen 1998) und zur Romantik (2000) ' wirft in mehrfacher Hinsicht einen multiperspektivischen Blick auf die Epoche des europäischen Fin de Siècle. Zum einen ist er aus einer interdisziplinären Ringvorlesung zum Fin de Siècle an der Universität Freiburg im Wintersemester 1999/2000 hervorgegangen, an der Anglisten, Germanisten und Romanisten teilgenommen haben. Zum anderen untersucht er nicht nur literarische und künstlerische, sondern auch philosophische und geschichtliche Phänomene um 1900 in ganz Europa und erschließt auf diese Weise das Thema der Jahrhundertwende unter literaturwissenschaftlicher wie kulturhistorischer Perspektive.
Die sechzehn Beiträge zu Literatur, Musik, Theater und Kunst des Fin de Siècle sind vier Bereichen zugeordnet. Im ersten Teil des Bandes werden unterschiedliche Ansätze bzw. Annäherungen zu einer Definition von 'Fin de Siècle' als Epochen- und Stilbegriff vorgestellt. Im einzelnen finden sich hier Beiträge zum Aufstand der Symbolisten im Kontext des französischen Fin de Siècle (Joseph Jurt), zum Wechselspiel zwischen skandinavischen und deutschen Literaturzentren (Heinrich Anz), zu Arthur Symons' The Symbolist Movement in Literature (Willi Erzgräber) sowie zu Zeitstil und Individualität in der 'Neuen Musik' um 1900 (Konrad Küster). Die Beiträge im zweiten Teil rücken konkrete ästhetische Fragestellungen in Lyrik und Drama, Musik und Roman in den Mittelpunkt und stellen innerliterarische und kunstimmanente Analysen vor: Monika Fludernik z.B. liefert einen anschaulich bebilderten Beitrag zum Verhältnis von Religion und Ästhetik und untersucht den besonderen Status des Religiösen in der Kunst von den Präraphaeliten bis zu Oscar Wildes Salome; Christa Karpenstein-Eßbach legt ausgehend von der Autonomisierung und Ästhetisierung der Kunst verschiedene Positionen ästhetischer Moderne innerhalb der drei 'Problemfelder' Sprachkrise, Wahrnehmung und Ende des Menschen dar; Christian Berger widmet sich Claude Debussy und der französischen Musik um 1900; und Martin Middeke arbeitet in Joseph Conrads Lord Jim vier Dimensionen gelebter Zeit heraus ' Zeitlichkeit, soziale Zeit, subjektive Zeit und mythische Zeit ', indem er das Erzählen selbst als eine 'Bewältigung und zugleich Reflexion subjektiver Erfahrung von Zeit' (S. 155) begreift. Die Beiträge im dritten Teil des Bandes nähern sich dem Phänomen 'Fin de Siècle' hingegen unter explizit kulturwissenschaftlicher bzw. -geschichtlicher Perspektive. So verweist Ansgar Nünning auf die große Bedeutung, die London für die Lyrik und Ästhetik der Nineties besitzt, und untersucht Stadtbilder in der urban poetry der 1890er Jahre im Spannungsfeld zwischen Naturalismus und Ästhetizismus. Drei weitere Beiträge beschreiben auf unterschiedliche Weise das Literatur- und Theatermilieu um die Jahrhundertwende: Rudolf Denk beschäftigt sich mit der Schauspielkunst im Wiener Theater; Gesa von Essen skizziert das Frauenbild im Drama des deutschen Naturalismus; und Ariane Huml vergleicht unter Einbeziehung gesellschaftspolitischer Zusammenhänge die Autobiographien von Arthur Schnitzler und Stefan Zweig im Hinblick auf deren Verhältnis zum neuen Dichtungsverständnis der Jahrhundertwende. Ganz andere, in sich wiederum sehr unterschiedliche kulturwissenschaftliche Fragestellungen verfolgen Gerd Indorf, Raimund Schäffner und Vera Nünning: Während Indorf Richard Strauss' Vertonung von Hofmannsthals Elektra in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen rückt und Schäffner das Verhältnis zwischen Imperialismus und Literatur im englischen Fin de Siècle analysiert, untersucht V. Nünning auf erzähltheoretisch innovative Weise Oscar Wildes Roman The Picture of Dorian Gray, der aufgrund seiner widersprüchlichen Strategien der Sympathielenkung und des daraus resultierenden ambivalenten Wirkungspotentials als Paradigma für den Wandel der Erzählkonventionen im englischen Roman zwischen Viktorianismus und Moderne angesehen werden kann. Im vierten und letzten Teil des Bandes schließlich erörtert Marcel Cornis-Pope theoretische Fragen zur Endzeit-Problematik der Kulturwissenschaften und bietet einen Ausblick zum 'End-of-History Syndrom' am Ende des 20. Jahrhunderts.
Insgesamt werden in den einzelnen Beiträgen nicht nur verschiedene Strömungen des Fin de Siècle wie Ästhetizismus, Dekadenz, Symbolismus und Naturalismus sowie verschiedene Gattungen und Medien berücksichtigt, sondern der kulturwissenschaftlichen Ausrichtung des Bandes entsprechend werden auch zahlreiche außerliterarische Einflüsse verarbeitet wie z.B. der Imperialismus und unterschiedliche Modernisierungs- und Technisierungsentwicklungen. Dabei kommen verschiedene literaturwissenschaftliche und kulturgeschichtliche Auffassungen zum Vorschein: Für die einen ist die Jahrhundertwende 'Wiege der nunmehr klassisch gewordenen Moderne' (Einleitung, S. 1); für die anderen repräsentiert das Fin de Siècle die 'Endzeitkultur des 19. Jahrhunderts' (ebd.), die geprägt ist durch die 'Kulmination kultureller, politischer und ästhetischer Strömungen, die am Jahrhundertende einem Höhepunkt zudrängen und dann quasi einen Knick oder Umbruch ins 20. Jahrhundert erfahren' (ebd.).
Es gilt besonders hervorzuheben, daß der Band trotz der zum Teil sehr unterschiedlichen Gegenstände und Ansätze in den einzelnen Beiträgen keineswegs nur durch den Buchrücken zusammengehalten wird, wie das bei Sammelbänden oft moniert wird. Im Gegenteil: Es gelingt ihm vielmehr zu verdeutlichen, daß sich Literatur-, Kunst-, Musik- und Kulturgeschichte um 1900 auf besondere Weise bedingen und gegenseitig ergänzen und daß sowohl innerhalb und zwischen einzelnen Gattungen und Medien als auch zwischen unterschiedlichen Diskursen und auf internationaler Ebene zahlreiche Verbindungen und gegenseitige Befruchtungen bestanden haben. Zudem bestätigen die Beiträge nachhaltig die in der Einleitung des Bandes von den Herausgeberinnen formulierte These, daß die Kunst-, Musik- und Literaturproduktion der 1890er Jahre 'nicht ohne weiteres nur als Vervollkommnung viktorianischer oder realistischer Tendenzen bzw. einzig und allein als Vorbote der Moderne gewertet werden kann' (S. 2), sondern eine eigene schillernde Epoche darstellt (vgl. ebd.). Angesichts der Vielfalt unterschiedlicher Phänomene und Individualstile ist ein Epochenstil jedoch offenkundig nicht auszumachen und eine griffige Begriffsdefinition nicht möglich ' allein ein multiperspektivischen Blick, wie er von den Beiträgerinnen und Beiträgern vorgenommen wird, vermag der Vielfalt des Fin de Siècle gerecht zu werden.