Während der erste Band der auf drei Teilbände angelegten Neuauflage des Handbuchs vor allem grundsätzlichen Fragen der Sprachentwicklung des Deutschen und ihrer Erforschung gewidmet war ' man vergleiche dazu die Besprechung WLA 40,1 (2001), S. 16 ' stehen im Vordergrund des zweiten Bandes die bisherigen 'Ergebnisse der Sprachgeschichtsforschung zu den historischen Sprachstufen' des Hoch- und Niederdeutschen. Wie schon in der ersten Auflage betrifft dies die Sprachstadien 'Althochdeutsch', 'Altniederdeutsch (Altsächsisch)', 'Mittelhochdeutsch', 'Mittelniederdeutsch', 'Frühneuhochdeutsch' und das 'Neuhochdeutsche in seiner Entwicklung vom 17. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts', hier abweichend von der ersten Auflage, wo es noch allgemeiner 'vom 17. bis zum 20. Jahrhundert' hieß.
Die einzelnen Artikel dieser sechs sprachstadienbezogenen Kapitel sind Teil eines Gliederungsschemas, das alle für das Althochdeutsche und Altniederdeutsche grundlegenden Beschreibungsebenen enthält und für die jüngeren Sprachstadien dann jeweils punktuell erweitert wird. Als grundlegend gelten: 'Soziokulturelle Voraussetzungen und Sprachraum', 'Phonetik und Phonologie', 'Morphologie, Lexikologie und Lexikographie', 'Syntax', 'Wortbildung', 'Textsorten', 'Diagliederung' und 'Reflexe gesprochener Sprache'. Nur im althochdeutschen Teil werden 'Soziokulturelle Voraussetzungen, Sprachraum und Diagliederung' in einem Beitrag zusammengefaßt. Im mittelhochdeutschen Abschnitt wird das Schema erweitert durch Klaus Peter Wegeras Beitrag über 'Grundlagenprobleme einer mittelhochdeutschen Grammatik' ' dieser Text erscheint erstmals in der Neuauflage ' und Ulrike Kiefers Artikel 'Das Jiddische in Beziehung zum Mittelhochdeutschen'. Für das Mittelniederdeutsche treten hinzu: Robert Peters' Aufsatz 'Die Rolle der Hanse und Lübeck in der mittelniederdeutschen Sprachgeschichte' und Timothy Sodmanns Artikel 'Die Verdrängung des Mittelniederdeutschen als Schreib- und Druckersprache Norddeutschlands'. Umfangreicher wird die Erweiterung des Grundschemas dann für den Abschnitt 'Frühneuhochdeutsch', wo fünf Beiträge hinzukommen: Rudolf Benzinger, 'Die Kanzleisprachen'; Joachim Knape, 'Das Deutsch der Humanisten'; Frédéric Hartweg 'Die Rolle des Buchdrucks für die frühneuhochdeutsche Sprachgeschichte'; Norbert Richard Wolf, 'Handschrift und Druck'; Werner Besch 'Die Rolle Luthers für die deutsche Sprachgeschichte'.
Diese umfangreichen Ergänzungen, die von Sprachstadium zu Sprachstadium ausgebaut werden, zeugen einerseits von der Zunahme sprachhistorischer Erkenntnisinteressen entlang der Zeitachse, andererseits aber auch davon, daß die älteren Sprachstadien noch immer überwiegend unter traditionellen Gesichtspunkten betrachtet werden. Diese Kernbereiche des Sprachsystems bilden aber zugleich auch heute noch den Ausgangspunkt jeder historischen Sprachbetrachtung. Der Teilband bietet daher in seiner Mischung aus Tradition und Erneuerung einen ausgezeichneten Überblick über den Stand der sprachstadienbezogenen sprachhistorischen Forschung. Die Mehrzahl der aus der ersten Auflage übernommenen Artikel wurde deutlich aktualisiert, neuer Literatur zumindest in so weit eingearbeitet, wie es die Struktur der Artikel zuließ. Tod oder schwere Krankheit einiger Bearbeiter haben bei einigen Artikeln zum Wechsel des Autors geführt, einige wenige Beiträge zu regionalen bzw. literarischen Aspekten der Sprachgeschichte sind in den geplanten dritten Band ausgelagert worden. Ersatzlos gestrichen wurde ' soweit ich sehe ' nur der Artikel 'Die mittelniederdeutschen Kanzleisprachen und die Rolle des Buchdrucks in der mittelniederdeutschen Sprachgeschichte'.
Ebenfalls ausgelagert wurde das alte Eingangskapitel des 2. Teilbandes 'Die genealogische und typologische Entwicklung des Deutschen', das jetzt den 1. Teilband abschließt. An seine Stelle tritt jetzt das Kapitel 'Aspekte einer europäischen Sprachgeschichte', das die wachsende Bedeutung der europäischen Dimension in der Sprachgeschichtsforschung exemplarisch deutlich macht. Sprach- und Nationenbildung (Christian Schmitt), Christianisierung (Stefan Sonderegger), die Herausbildung neuzeitlicher Schriftsprachen (Klaus J. Mattheier) lexikalische (Baldur Panzer) und grammatische Gemeinsamkeiten (John Ole Askedahl) sowie die phasenweise Dominanz der Sprachen Latein (Christian Schmitt), Französisch (Richard Baum) und Englisch (Manfred Görlach) geben einen sehr guten Einblick in Bereiche, die die Forschung in den nächsten Jahren bestimmen sollten. Das Voranschreiten der Forschung seit Erscheinen des Teilbandes dokumentiert beispielsweise für das Feld der Christianisierung Jörg Füllgrabe: Die Christianisierung der Westgermanischen Stämme und Stammessprachen. Zur Frage sprachlicher und kultureller Kontinuität und Diskontinuität von der vorchristlichen Zeit bis zum Mittelalter, Hamm 2003.
Auch das letzte Kapitel des Bandes ist neu. Ausgelagert wurde die 'Deutsche Namengeschichte im Überblick'. Den Abschluß bildet jetzt kein neuer Themenbereich, vielmehr hat es die Intensivierung der Forschungen zur jüngeren Geschichte der deutschen Sprache möglich und nötig gemacht, das alte Kapitel 'Das Neuhochdeutsche in seiner Entwicklung vom 17. bis zum 20. Jahrhundert' in zwei Teile aufzuspalten. An das bereits skizzierte Kapitel XIII 'Das Neuhochdeutsche in seiner Entwicklung vom 17. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts', das die Mehrzahl der bereits im 1. Teilband veröffentlichten Artikel enthält, schließt sich jetzt ein Kapitel XIV 'Entwicklungstendenzen der deutschen Sprache seit der Mitte des 20. Jahrhunderts' an. Eine ganze Reihe von meist pragmatisch ausgerichteten Fragestellungen kommt damit erstmals in den Gesichtskreis des Handbuch-Lesers. Varianten und Varietäten des Deutschen kommen hier zur Sprache, aber auch die Sprachkritik, die Phraseologie oder die Sprache der Anzeigenwerbung, der Presse und des Hörfunks. Ulrich Ammons Artikel 'Geltungsverlust und Geltungsgewinn der deutschen Sprache seit der Mitte des 20. Jahrhunderts' rundet das Kapitel ab.
Damit wird nachhaltig deutlich, daß Sprachgeschichte nicht ausschließlich in Mittelalter und Früher Neuzeit stattfindet, sondern unmittelbar bis in die Gegenwart hineinreicht. Das Kapitel wird daher auch viele, bisher nicht an der Sprachgeschichte Interessierte ansprechen und damit den Dialog zwischen den Teilgebieten der Linguistik/Sprachwissenschaft fördern. Die Qualität des Konzepts und der überwältigenden Mehrzahl der einzelnen Beiträge ist so hoch, daß sich kritische Einwände im Detail von selbst verbieten. Das Handbuch wird durch die behutsam vorgenommenen Umgruppierungen und Neuerungen mehr noch als sein Vorgänger den Gang der weiteren Forschung bestimmen ' vorausgesetzt zumindest Bibliotheken werden weiterhin in ausreichender Zahl den Preis des Buches bezahlen können.
Ein ganz klein wenig wird man allenfalls bedauern, daß sich die Herausgeber nicht dazu durchringen konnten, das neu strukturierte Kapitel zum Neuhochdeutschen auch terminologisch an die etablierten Sprachstadien des Deutschen anzugleichen. Statt der komplizierten Titel XIII: 'Das Neuhochdeutsche in seiner Entwicklung vom 17. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts' und XIV: 'Entwicklungstendenzen der deutschen Sprache seit der Mitte des 20. Jahrhunderts' hätte sich vielleicht eine Differenzierung in 'Älteres Neuhochdeutsch', 'Mittleres Neuhochdeutsch' und 'Jüngeres Neuhochdeutsch' angeboten, wobei als 'Jüngeres Neuhochdeutsch' etwa die Zeit ab 1950 anzusetzen wäre und damit den Rahmen des Kapitels XIV umspannte. Eine Differenzierung in 'Älteres Neuhochdeutsch' und 'Mittleres Neuhochdeutsch' hätte allerdings Konsequenzen für Kapitel XIII gehabt. Würde man nämlich eine Zeit der Durchsetzung der Norm der neuhochdeutschen Schriftsprache von etwa 1650 bis 1800 und eine Blüte- und Verfallszeit der 'bürgerlichen Sprachkultur' von ca. 1800 bis 1950 voneinander abgrenzen, so würde deutlich, daß gerade auf diesen Gebieten noch sehr viel zu tun ist. Hinweise auf Facetten der 'bürgerlichen Sprachkultur' und der Sprache der 'Kleinen Leute' sucht man jedoch meist vergeblich, auffällig ist auch, daß in Kapitel XIII zwar die 'soziokulturellen Voraussetzungen' des 'Älteren' und 'Mittleren' Neuhochdeutschen behandelt werden, nicht aber die Sprachräume und die Diagliederung. Für viele Kapitel des letzten Kapitels müßten die Grundlagen eigentlich erst noch gelegt werde, so für die Zeitungssprache, die Werbesprache und für viele Fach-, Wissenschafts- und Sondersprachen durch die vielfach noch ausstehende Erforschung ihrer Ausformungen im 18. und 19. Jahrhundert. Aber auch der Wissensstand etwa zur Wortbildung im Neuhochdeutschen ist, so wie er im Handbuch dokumentiert wird, noch unzureichend.
Damit soll aber nur angedeutet werden, in welche Richtung sich die weitere Forschung entwickeln könnte ' ohne dabei die klassischen Kernbereiche zu vernachlässigen. Der 2. Teilband des Handbuchs spiegelt in seiner jetzigen Form fast ideal die Erträge und Leistungen eines ganzen Jahrhunderts der Erforschung der Geschichte der deutschen Sprache. Den Herausgebern ist dafür sehr zu danken.