Ein charakteristisches Merkmal mittelalterlicher Gelehrsamkeit ist sicherlich die Tatsache, daß alles Wissen über die Welt und ihre vielfältigen Erscheinungen zuerst und vor allem aus den gelehrten Texten der Autoritäten vergangener Zeiten geschöpft wurde. Dies hat zu einer heute kaum mehr vorstellbaren Kontinuität und Konzentration auf die wesentlichen Dinge des menschlichen Daseins geführt und erklärt einiges auch von der Faszination, die der Lebensentwurf des christlichen Mittelalters noch heute auf viele Menschen ausübt. Dieser Zugriff hatte aber gewissermaßen im Detail, im Bereich der einzelnen Wissenschaften, natürlich auch schwerwiegende Nachteile, die teils früher offenkundig wurden (so in der Medizin, wo sich etwa in den Schriften der Alten keine Hinweise auf die Behandlung der großen Epidemien des Mittelalters finden ließen), teils aber auch erst später (man denke an die lang andauernde Abhängigkeit der grammatischen Beschreibung des Deutschen von der auf die lateinische Sprache zugeschnittenen Terminologie). Die Beschäftigung mit dem Pflanzenreich nimmt hier in etwa eine Zwischenstellung ein. Die Antike und das Mittelalter scheinen Pflanzen vor allem aus der Perspektive der Pflanzenheilkunde betrachtet zu haben. Anders als etwa in Bezug auf Mineralien oder die Tierwelt war das Bewußtsein der symbolischen und auch der sakralen Aspekte der Landschaft und der sie prägenden Pflanzen weit schwächer verwurzelt.
Am Ausgang des Mittelalters schwand nun aber das Vertrauen in die Beschreibungen der botanischen Autoritäten wie etwa des Theophrast oder des Dioskurides in dem Maße, in dem sinnfällig wurde, daß die heimische mitteleuropäische Flora nun einmal nicht die gleiche war wie die von den Alten beschriebene des Mittelmeerraumes. Wie aber heißen die Pflanzen der heimischen Landschaften? Wie kann sichergestellt werden, daß ein jeder unter einem gegebenen Pflanzennamen auch dasselbe versteht? Die 'Schwierigkeiten bei der Identifizierung der Pflanzen, die der Behandlung von Kranken und ihrer Heilung dienen sollten, ließen sich nicht mehr bewältigen, wenn es nicht gelang, die Übermittlung des Wissens durch eindeutige Beschreibung der Pflanzen zu gewährleisten und zu verbindlichen Vereinbarungen über die Namengebung zu kommen' (S. 13). In diesen im deutschen Sprachraum lange vernachlässigten Problembereich führt Peter Seidensticker mit seiner höchst lesenswerten Studie ein. Er erinnert dabei an Hieronymus Bock (1498 - 1554) und die ersten Ansätze zu einer wissenschaftlichen Botanik, die zugleich den Beginn eines etwa 200 Jahre dauernden Ringens um eine verständliche und verbindliche Nomenklatur der Pflanzennamen markieren. Am Ende dieser Entwicklung, mit Linnés bahnbrechender Leistung, sind aber die volkstümlichen Benennungen zugleich so etwas wie ein 'gesunkenes Kulturgut' geworden, das für die wissenschaftliche Botanik nicht mehr von besonderem Interesse zu sein scheint. Es liegt jedoch auf der Hand, daß gerade diese Namen wichtige Aufschlüsse über die Pflanzen und die ihnen zugeschriebenen Eigenschaften und die mit ihnen verbundenenVorstellungen geben können.
Wie die volkssprachigen deutschen Pflanzennamen aussehen und wie sie sich zusammensetzen wird in den systematischen Kapiteln über Etymologie und Wortbildung exemplarisch vorgeführt; gegliedert nach Aspekten wie etwa Größe, Frucht, Eigenschaften, Farbe oder Mythologie und Geschichte. Zu berücksichtigen ist dabei stets, daß es sich bei Pflanzennamen im sprachwissenschaftlichen Sinne um Bezeichnungen einer Pflanze handelt. Im Unterschied zu den Eigennamen im engeren Sinne benennt ein Pflanzenname zwar immer eine bestimmte Pflanze, aber sie wird nicht individuell, sondern als Exemplar einer Art definiert. Man vermißt bei diesen auf hohem philologischen und sprachwissenschaftlichen Niveau angesiedelten Ausführungen allenfalls eine Art von zusammenfassend-weiterführender Schlußbetrachtung, doch sind Peter Seidenstickers Studien zur Überlieferung der Pflanzennamen nur ein Teilstück der Beschäftigung des Autors mit diesem Thema und es bleibt zu hoffen, daß noch weitere Arbeiten folgen werden.