Der Schreibstand der deutschsprachigen Urkunden und Stadtbucheintragungen Südböhmens aus vorhussitischer Zeit (1300-1419)

Ein an den linguistischen Theorien der Moderne geschulter Leser wird sich vielleicht zunächst, frei nach Friedrich Schiller, die Frage stellen 'Warum und zu welchem Ende studiert man die deutschsprachigen Urkunden und Stadtbucheintragungen Südböhmens?' Eine Antwort verspricht jetzt die Untersuchung H. Bokovás, die zugleich 1997 an der Universität Brno als Habilitationsschrift angenommen wurde. Die Arbeit beansprucht unsere Aufmerksamkeit als ein Baustein in der Geschichte der Erforschung der neuhochdeutschen Schriftsprache. Die ältere Forschung hatte sich dieser zentralen Frage in einer gewissen Abhängigkeit von den jeweils zeittypischen politischen bzw. ästhetischen Strömungen mit monokausalen Erklärungsmustern angenähert, die sich nicht haben halten können. Auf das an nationalstaatlichen Denkmustern des 19. Jahrhunderts orientierte Modell Müllenhoffs von der Kontinuität der Schriftsprache entlang einander ablösender mittelalterlicher kaiserlicher Zentren folgte mit Konrad Burdachs These von der Vorrangstellung der Prager Kanzlei Karls IV. eine an den humanistischen Traditionen der Jahrhundertwende ausgerichtete Forschung. Sie wiederum wurde abgelöst von der in den 30er Jahren von Theodor Frings entwickelten Vorstellung von einer kolonialen Ausgleichssprache durch den Sprachausgleich der Siedlermundarten im obersächsischen und schlesischen Raum im 12. und 13. Jahrhundert; eine These, die - an die postulierte Vorrangstellung der gesprochenen Sprache anknüpfend - leicht in das nationalsozialistische Weltbild eingebaut werden konnte, ohne selbst nationalsozialistisch motiviert zu sein.
Diesen monozentrischen Auffassungen stehen heute - insbesondere von Werner Besch geförderte - Vorstellungen gegenüber, die die Herausbildung der deutschen Schriftsprache als 'Gemeinschaftswerk' vieler Schreiblandschaften sehen - wobei ein deutliches Übergewicht des Südens, vor allem des Südostens zu Tage tritt. In diesen Rahmen fügt sich auch H. Bokovás Untersuchung der südböhmischen Sprachdenkmäler ein, denn es versteht sich von selbst, daß für eine genaue Durchleuchtung dieses 'Gemeinschaftswerks' auch tatsächlich alle einzelnen Sprachlandschaften genau analysiert werden müssen. Hieran fehlt es aber bis heute noch immer für manche wichtige Region, denn zur Untermauerung des forschungsgeschichtlich modernen, weil plurizentrischen Erklärungsmodells bedarf es mühsamer Kleinarbeit und traditioneller Arbeitsmethoden, vor denen nicht wenige Germanisten heute gerne zurückschrecken.
Um so mehr ist H. Boková für ihre akribische und gediegene Studie zu danken, die das reiche diplomatische Material für die Zeit von ca. 1300 - hier erscheint die erste deutschsprachige Urkunde in Südböhmen - bis zum Beginn der hussitischen Bewegung und den damit einsetzenden Veränderungen etwa im Jahre 1419 hinsichtlich seines Schreibstandes bearbeitet.
Die einzelnen Urkunden werden dabei nicht jeweils für sich analysiert, sondern, was auf Grund der Forschungslage gut begründet scheint, zu einem einzigen Korpus zusammengefaßt. Damit wird der bisher bekannte deutschsprachige Urkundenbestand Südböhmens erstmals vollständig zusammengetragen. Boková konnte 148 Urkunden - meist Schenkungen und Verkäufe, Bestätigungen von Besitzrechten und Schiedssprüche - sowie Eintragungen aus dem Budweiser Stadtbuch (hier 1389 - 1413) und dem Prachatizer Gedenkbuch (hier 1387 - 1408) ermitteln, die nach Ausstellergruppen (Hochadel, Kleinadel, Klöster, Städte) geordnet hinsichtlich ihres Schreibstandes untersucht werden. Syntax, Wortschatz und etwa auch der Namenbestand bleiben leider, aber in Anbetracht der Materialfülle verständlich, unberücksichtigt. Allein 20 bisher nicht zugängliche Urkunden, darunter die älteste von ca. 1333 (wohl aus Hohenfurt / Vys×s×i Brod) wurden erstmals ediert, die übrigen haben Boková als Original oder Photokopie vorgelegen. Dankenswerterweise hat sie durch eine knappe Zusammenfassung der 'Geschichte und nationalen Struktur Südböhmens im Untersuchungszeitraum' und der Forschung zum Thema 'Deutsch in schriftlichen Denkmälern Südböhmens im 14. und 15. Jahrhundert' auch den mit der Geschichte Südböhmens weniger vertrauten Lesern eine gute Grundlage zur richtigen Einschätzung der Untersuchungsergebnisse mitgegeben.
Am Ende zeigt sich, daß neben dialektal-mittelbairischen und neutral-bairischen Schreibformen vereinzelt durchaus auch mitteldeutsche Züge auftreten. Insgesamt fallen die südböhmischen Textzeugen nicht aus dem Rahmen einer allgemeineren böhmisch-mährisch-österreichischen Norm heraus. Während beim Kleinadel und den Klosterurkunden - die nur bis ca. 1376 reichen - die Dialektmerkmale stärker hervortreten, sind die Texte des Hochadels und der Städte vergleichsweise dialektfrei. Damit gehört auch Südböhmen zu eben den Sprachlandschaften, die am Prozeß der Herausbildung der neuhochdeutschen Schriftsprache nicht unwesentlich beteiligt waren. Es ist das Verdienst H. Bokovás, dies in aller Deutlichkeit gezeigt zu haben.