Troja – Metamorphosen eines Mythos
Französische, englische und italienische Überlieferungen des 12. Jahrhunderts im Vergleich

Die öffentliche und wissenschaftliche Präsenz von Troja und der Erzählungen über die Stadt und ihre Zerstörung ist ungebrochen. Erinnert sei hier an die Ausstellung 'Troia ' Traum und Wirklichkeit' der Jahre 2001 bis 2002, aber auch an die Diskussionen um Raoul Schrotts 'Homers Heimat. Der Kampf um Troia und seine realen Hintergründe' (München 2008). Erwähnt sei auch der von Martin Zimmermann herausgegebene Band 'Der Traum von Troia: Geschichte und Mythos einer ewigen Stadt!' (München 2006). Als wissenschaftliche Neuerscheinung speziell zu mittelalterlichen Metamorphosen der Erzählungen über Troja stellt sich neben das hier zur Besprechung stehende Werk von Kordula Wolf das Buch von Wolfram R. Keller, 'Selves and Nations. The Troy Story from Sicily to England in the Middle Ages' (Heidelberg 2008).
Kordula Wolfs Interesse gilt in ihrer Untersuchung 'Troja ' Metamorphosen eines Mythos. Französische, englische und italienische Überlieferungen des 12. Jahrhunderts im Vergleich' einer kritische Reflexion und Revision einer These der mediävistischen Geschichtswissenschaft, Referenzen auf Troja und speziell auf die Geschichte des Trojanischen Kriegs (bzw. auf die Erzählungen über ihn) in mittelalterlichen historiographischen Texten hätten eine fundierende, identitätsstiftende und herrschaftslegitimierende Funktion und damit zugleich eine kollektive Verbindlichkeit (vgl. insbes. S. 14, 34-39, 196). Methodischer Ausgangspunkt ist für sie eine fundierte Auseinandersetzung mit dem Mythos-Begriff, wobei sie hier ein eher enges und funktionales Mythosverständnis innerhalb des 'Erinnerungsparadigmas' (z.B. nach Jan Assmann) mit einem offeneren, aspektiven Ansatz kontrastiert. Das enge Mythosverständnis versteht Mythos primär als funktional-fundierend und als eine Form historischer Selbstlegitimierung (vgl. S. 46) und verwendet den Begriff entsprechend eingeschränkt für den Textbereich der Herkunfts- und Gründungserzählungen (vgl. S. 48). Offenere Mythentheorien speisen sich hingegen aus einem aspektiven Ansatz, nach welchem Mythos zumindest vier Elemente aufweist: ein genealogisches Element, eine Bindung an eine bestimmte soziale Trägergruppe, eine Möglichkeit unendlichen Weitererzählens und damit verbunden eine Variabilität seiner Erscheinungsformen (so Michael Borgolte, vgl. S. 46). Die Variabilität der Erscheinungsformen ist aber geknüpft an einen narrativen Kern, und so kommt Wolf zu einer Bestimmung des Troja-Mythos als 'eine im Kern beständige und symbolhafte Erzählung über eine vorgestellte Vergangenheit, die eine variable narrative Struktur besitzt' (S. 53), dessen 'Erzählkern' vier Elemente konstituieren: der Trojanische Krieg, der Untergang der Stadt Troja, die Flucht der trojanischen Helden und schließlich die Gründung neuer Herrschaften durch die Trojaner (S. 49). Mythos erscheint damit allgemein als eine 'Art unendlich 'offener' Text' (S. 52) von hoher Anpassungsfähigkeit. Wolfs Auseinandersetzung mit den Mythos-Begriffen und ihre eigene Begriffsbestimmung ist auch deshalb methodisch fruchtbar und anregend, weil diese wegen ihrer Explizitheit das Potential hat, für andere mediävistisch-komparatistische Untersuchungen solcher Mythen ein tragfähiges Instrumentarium zu sein.
Für das europäische Mittelalter war der Troja-Mythos in dem von Wolf etablierten weiteren Sinn ungemein attraktiv, und deshalb wurde es für ihre vergleichenden Detailuntersuchungen notwendig, die zugrundegelegten Hauptquellen geographisch und chronologisch deutlich einzugrenzen, nämlich auf die drei Großregionen England (speziell das anglo-normannische Herrschaftsgebiet), Frankreich (speziell die Krondomäne und die vom französischen König abhängigen Lehnsgebiete) und Italien sowie auf die Zeit des 12. Jahrhunderts. Das 12. Jahrhundert ist nach Wolf ein interessanter Untersuchungszeitraum, weil es zum einen eine Zunahme der Quantität der Referenzen auf Troja und die Trojaner gab, zum anderen aber auch eine neue Qualität, 'welche die Rezeption des Mythenstoffes in den darauf folgenden Jahrhunderten nachhaltig beeinflussen sollten' (S. 59). Im Zentrum ihrer Untersuchung stehen deshalb drei Geschichtswerke, die alle den Troja-Mythos aufnehmen, wenn auch in ganz unterschiedlichem Umfang, nämlich die 'Historia Regum Britannie' des Geoffrey of Monmouth (c. 1136-1138), die zeitgeschichtlichen 'Gesta Philippi Augusti' des Rigord (um 1200) sowie die weltgeschichtliche 'Cronica' des Sicard von Cremona (1185-1201/1213) ' 'Troja und die Trojaner nehmen bei Sicard von Cremona circa eine von insgesamt 100 Seiten der Edition ein, bei Rigord dagegen knapp 6 von 167 und bei Geoffrey mehr als 15 von ungefähr 147 Druckseiten' (S. 87). Wolfs Analyse der Aufnahme und Verarbeitung des Troja-Mythos in diesen drei Werken erfolgt unter drei Fragestellungen und gliedert sich entsprechend in drei Hauptkapitel: Variabilität, Transformation und Relevanz des Mythos. Unter dem Aspekt der Variabilität faßt Wolf zunächst die Darstellung und den Vergleich der in den drei Werken gegebenen Informationen über Troja und die Trojaner sowie dann ihre Einbindungen in zeitgenössische historiographisch-literarische Troja-Diskurse. Aus dem Vergleich der Texte ergeben sich dabei 'mehrere verbindende Grundmotive: Wanderungen, Städte- und Herrschaftsgründungen, Unabhängigkeitstopos, Heidentum' (S. 90). Wenn Wolf einleitend auch feststellt, sie wolle 'kein Kompendium oder Überblickswerk' zu Troja im Mittelalter zusammenstellen (S. 13), so bietet sie gerade bei der Darstellung der Troja-Diskurse eine belesene und umfangreiche Sammlung von Referenzen auf den Troja-Mythos aus englischen, anglo-normannischen, französischen und italienischen Texten (S. 91-146), die, auch wegen der guten Literaturangaben, für zukünftige textkomparatistische Forschungen nützlich sein wird. Das Kapitel über die Transformationen des Mythos ist diachron angelegt und bietet auf der Basis reichen Vergleichsmaterials quellen- und rezeptionsgeschichtliche Analysen der Texte. Die Untersuchung der Relevanz des Mythos für die Autoren und das von ihnen intendierte Publikum ist eher synchron auf die Verortung der Texte im 12. Jahrhundert fokussiert und ergibt, daß die Behauptung trojanischer Ursprünge in allen drei Texten 'für die Rezipienten der damaligen Zeit keinen identifikatorischen bzw. herrschaftslegitimiereden Bezugspunkt bildeten' (S. 279).
Auf der Basis ihrer Analysen gelangt Wolf zu einer sehr differenzierten Sicht auf die Metamorphosen des Troja-Mythos in den Texten, die hier in ihren Einzelheiten nicht nachgezeichnet werden kann. Zwei interessante Einzelergebnisse zu Geoffrey seien jedoch exemplarisch notiert. Unter dem zusammenfassenden Stichwort 'Offenes Finale' (S. 237) charakterisiert Wolf die Problematik, seinem Werk eine eindeutige Funktion zuzuordnen und eine Erklärung für seinen großen Erfolg zu finden. Sie betont, daß die 'Historia' für Geoffrey ein Medium war, 'mit dessen Hilfe er sich auf die Suche nach Patronage, Pfründen und Posten bei einflussreichen Potentaten begab' (S. 220), und sieht in dem 'offenen Assoziationspotenzial', das er entsprechend bereitstellte und 'das in einer Zeit, in der Literatur und Gesichtsschreibung hoch im Kurs standen und in der sich politische Konstellationen beständig wandelten, auf unterschiedliche Weise anzusprechen vermochte' (S. 238), die Begründung für den Erfolg. Einen aufschlußreichen inter-textuellen und politischen Bezug zwischen Geoffrey und Rigord arbeitet Wolf mit dem Nachweis einer expliziten Abwertung der britisch-englischen Version der Trojanerabstammung heraus '  während Geoffrey die trojanische Herkunft der Franzosen einfach verschweigt: Rigord nimmt, 'als er die ausführliche Schilderung der 'Historia Regum Britannie' in wenigen Sätzen zusammenfasst, gerade die Information, Brutus sei ein unehelich gezeugter Sohn, noch einmal nahezu wörtlich auf. Angesichts dessen, dass die lückenlos bis zu Hektor geführte fränkisch-französische Herrscherfolge keine 'Bastarde' kennt, muss die aus der Liebschaft des Filinus hervorgehende Geburt des Ahnherrn der Briten als ein Schandfleck gelten, zumal da Rigord die Linie von den Trojanern über die Merowinger und Karolinger bis zu den Kapetingern als einzige von allen Herrschergeschlechtern vollständig bis in die Gegenwart zieht und durch das Übergehen der trojanisch-römischen Tradition zusätzlich in ihrer Exklusivität unterstreicht' (S. 84-85, vgl. S. 73, Abb. 3, und S. 78, Abb. 4, für schematische Darstellungen der trojanischen Abstammungen nach Rigord bzw. Geoffrey). So insinuiert Rigord, 'die englische Trojaner-Linie sei seit den Anfängen mit dem Makel der Illegitimität behaftet gewesen und nach der Eroberung Englands durch die Normannen ausgestorben' (S. 243). Wolf vermerkt (S. 209), daß es unsicher ist, ob Geoffrey als Autor des sog. Book of Llandaff (oder Llandaf), einer Handschrift des 12. Jahrhunderts aus Wales, anzusehen ist; John Reuben Davies (The 'Book of Llandaf and the Norman Church in Wales', Woodbridge, 2003, S. 132-142) hat kürzlich weitere Argumente für die Autorenschaft von Caradog of Llancarfan (fl. 1235), einem Zeitgenossen von Geoffrey, dem er am Ende der Historia die Fortführung der Geschichte der walisischen Könige vorschlägt, vorgebracht.
Ein Seitenthema der Diskussion von Wolf ist die Abgrenzung von geschichts- und literaturwissenschaftlichen Interpretationsansätzen (insbes. S. 14) und von Historiographie und 'Literatur' im Mittelalter (vgl. S. 20, 146-147), wobei diese Aspekte zumindest für Werke, die sich wie der Troja-Mythos mit Vergangenheit beschäftigen, komplex verbunden sind. Eine eindeutige Zuordnung z.B. der anglo-normannischen Reimchroniken oder den antikisierenden Romanen 'zu den Kategorien Geschichtsschreibung bzw. Literatur, wie wir sie heute definieren' (S. 146, meine Hervorhebung) problematisiert sie aus der Perspektive des mittelalterlichen Verständnisses, spricht aber ' wohl im heutigen Sinn ' für Geoffreys Historia von einer 'Symbiose aus Literatur und Geschichtsschreibung' (S. 234). Im Hinblick auf die unterschiedlichen Interpretationsansätze ist ein Vergleich mit dem oben genannten Buch von Keller instruktiv, der die Troja-Erzählungen von Benoît de Sainte-Maure, Guido delle Colonne, Geoffrey Chaucer, John Lydgate, Robert Henryson sowie des sog. 'Laud Troy Book' gerade im Blick auf individuelle und nationale Konstruktionen von Identität untersucht ' das Identitätsparadigma, das Wolf für die Geschichtswissenschaft überwinden will, hat für die Literatur- und Kulturwissenschaft noch ein großes Erkenntnispotential, denn nach Keller sind die von ihm untersuchten Werke auch 'myths of, and mythologies for, collective identification, which look backward and forward at the same time; in fact, they reconsider the collectivity's past in order to look forward to a nation's future' (S. 567).
Die Aufnahme und Verarbeitung des Troja-Mythos im mittelalterlichen Irland nimmt Wolf aus ihrer Betrachtung aus verständlichen Gründen heraus. Dares' 'De Excidio Troiae Historia' wurde möglicherweise bereits im 10. Jahrhundert ins Irische übertragen, und diese Übertragung wurde weiter transformiert und überliefert und behielt somit ihre Relevanz ' weiterhin unabhängig von Geoffrey oder politisch-kulturellen Einflüssen der Anglo-Normannen. Für die irischen Gelehrten war der Troja-Mythos nicht herrschaftslegitimierend oder fundierend im engeren Sinn, da sie ihre Herkunft weder von den Trojanern noch von den Römern ableiteten, sondern von Einwanderern aus Spanien bzw. letztlich aus Ägypten und den Nachkommen von Gomer, einem Sohn Japhets. Aus irischer Perspektive relativiert sich auch die 'Kontinuität mit dem Imperium Romanum' als einer wichtigen Grundlage für die mittelalterliche westeuropäische Adaption des Troja-Mythos (S. 290). Interpretatorische Ansätze, die die fortdauernde Relevanz der irischen Fassungen erklären, sind wohl in den Bereichen der Gattungs- und Stilanalyse sowie der Untersuchung der Handschriftenkontexte zu finden.
Zusammenfassend läßt sich festhalten, daß es Kordula Wolf in ihrer Untersuchung gelingt, auf der Grundlage methodisch abgesicherter und fundierter Textanalysen und
-vergleiche Funktionen und Motivationen mittelalterlicher Troja-Referenzen jenseits ihrer identitätsstiftenden und herrschaftslegitimierenden Bedeutung detailliert in ihrer Komplexität nachzuweisen und in ihren jeweiligen Kontexten zu verorten; damit und durch die Explizierung eines auf ähnliche Fragestellungen übertragbaren Mythos-Begriffs leistet sie einen überzeugenden und erkenntnisfördernden Beitrag nicht nur für die Geschichtswissenschaft, sondern auch für die Literaturwissenschaft.