Ami, it's time to go!
Plädoyer für die Selbstbehauptung Europas

Oskar Lafontaine, zeitlebens eng mit der Entspannungspolitik Willy Brandts verbunden und prägende Gestalt der deutschen Sozialdemokratie der 1990er Jahre, bezieht nach Rückzug aus politischen Ämtern weiterhin Stellung zu Brandherden und politischen Konfliktfällen. Inhalte seines neusten Buches Ami, it's time to go! wirken hierbei wie die Orchesterfassung der
zahlreichen medialen Äußerungen seiner Ehefrau Sahra Wagenknecht.

Lafontaines Aufruf zum Abzug US-amerikanischer Präsenz aus Europa ist dreigliedrig und startet mit dem Szenario des von Russland begonnenen Krieges gegen die Ukraine. Der Frage „Hat der Dritte Weltkrieg bereits begonnen?“ (S. 9-37) folgt Rollenverteilung: der „neue 'Washington-London-Warschau-Kiew-Block'“ (S. 10), ergänzt durch „Kriegstreiber“ (S. 11), wie sie durch die Außenminister der baltischen Staaten repräsentiert werden, lassen den deutschen Kanzler als willfährigen Handlanger erscheinen, der deutsche Waffenlieferungen an die Ukraine Vorschub leistet. Scholz tritt mit Affinität zum Angelsächsischen hervor, „fremdelt“ (S. 13) aber gegenüber französischer Kultur, weshalb das Tandem Berlin-Paris der neuen „Achse zur Spaltung Europas“ (S. 13) aus USA und osteuropäischen Ländern wenig entgegensetzen kann. Die Ukraine ist für Lafontaine zuvorderst Bühne eines amerikanisch-russischen Stellvertreterkrieges zwischen ukrainischen Bandera-Nazis und der russischsprachigen Bevölkerung der Ostukraine mit dem Fernziel, „das Aufkommen einer mächtigen eurasischen Macht durch ein Zusammengehen von deutscher Technik mit russischen Rohstoffen zu verhindern“ (S. 23). So stehen für Lafontaine selbstredend die USA hinter der Sprengung der Gaspipelines Nordstream 1 und 2, wie es bereits im Klappentext des Buches zu lesen ist. „Clintons Bombern, Bushs Panzern, Obamas Drohnen oder Bidens Toten“ (S. 22) werden bei Lafontaine nicht Breschnews Afghanistan-Krieg, Gorbatschows Aggression gegen die litauische Freiheitsbewegung, Jelzins Griff nach Grosny und schon gar nicht Putins Verbrechen gegen die ukrainische Zivilbevölkerung gegenübergestellt. Selenskyj hingegen, demokratisch gewählter Präsident der Ukraine, will nach Meinung des Autors „den totalen Krieg“
(S. 26).

„Kein Nuklearkrieg in Europa! Wir müssen uns aus der Vormundschaft der USA befreien“ (S. 39-74) ist daher folgerichtiger Ausspruch, mit dem Lafontaine in den zweiten Abschnitt übergeht. Auch hier bleiben die USA Bösewicht und Unsicherheitsfaktor. Lafontaine beklagt die „Abkehr von der Brandtschen Entspannungspolitik“ (S. 43), die freilich nicht von deutscher oder europäischer Seite, sondern für Lafontaine allein von den ständig Konflikte schürenden Vereinigten Staaten betrieben wurde. Hierzu zieht Lafontaine das Sündenregister US-amerikanischer Kriege in Korea, Vietnam, Irak, Afghanistan und Syrien (S. 45). Die europäische, insbesondere deutsche Rolle im Zusammenhang weltweiter Aktivitäten und Irrwege US-amerikanischer Außen- und Kriegspolitik reduziert sich bei Lafontaine auf den Begriff der „Versallenschaft“ (S. 46).

Lafontaine wechselt im letzten Abschnitt zu „Gedanken zum Krieg“ (S. 75-87), wo er Horaz' Sentenz Dulce et decorum est pro patria mori Vians Le Déserteur gegenüberstellt (S. 75-76) und Grundsätzliches zum Thema äußert. Beim Sinnieren stellt sich aber – hier schreibt ein Altlinker – „früher oder später die Systemfrage“ (S. 77), die auf „unsere kapitalistische Wirtschaftsordnung und unsere Wirtschaftsweise mit ihren Eigentumsstrukturen“ (S. 77) verweist, die für den Autor rasch zum „Oligarchen-Kapitalismus“ ausufert (S. 77).

Lafontaines neustes Buch bleibt einseitig. Ein Rückgang amerikanischer Präsenz in Europa wird nicht, wie Lafontaine hofft, durch selbstbewusste Europäer vorangetrieben, sondern weit stärker durch Wiederbelebung eines amerikanischen Isolationismus durch die Amerikaner selbst gefördert. Als Hemmschuh der europäischen Concordia, die weder im Ukraine-Krieg noch bei gemeinsamen Strategien gegenüber chinesischer Hegemonie und schon gar nicht im Nahostkonflikt sichtbar wurde, erweist sich die europäische Diversität – nicht amerikanischer militärischer und wirtschaftlicher Einfluss auf Europa, wie ihn Lafontaine zu beschreiben versucht. Ein von amerikanischen Militärbasen bereinigtes Europa würde kaum zur Förderung eines friedensbereiten, an die Menschenrechtscharta kompatiblen Russlands beitragen. Das gegenwärtige Reich Putins bleibt in Lafontaines Plädoyer fast konturlos. Die Verbrechen im Krieg gegen die Ukraine werden hier nicht ursächlich dem Kremlherrscher, sondern in mehr oder minder langen Argumentationsschleifen dem Lager unguter US-amerikanischer Außen-, Sicherheits- und Wirtschaftspolitik angelastet.