Die Lichtensteinhöhle bei Osterode am Harz, Ldkr. Göttingen
Bestattungsplatz einer Großfamilie aus der Urnenfelderzeit

Mit dem 58. Materialheft zur Ur- und Frühgeschichte Niedersachsens werden die Forschungsergebnisse der mehrjährigen Grabungen in der Lichtensteinhöhle bei Osterode am Harz vorgestellt. Die umfangreichen Funde, vor allem darunter mehr als 4.000 Menschenknochen, die zahlreichen technischen Untersuchungen und das erläuternde Kartenmaterial haben eine dreibändige Zusammenstellung nötig gemacht. Auf mehr als 700 Seiten stellt Stefan Flindt die Lage der Fundstelle und das archäologische Umfeld dar (S. 17-22), geht auf die Entdeckungsgeschichte ein und stellt die verschiedenen Befunde, die zusammen mit Jens Lehmann ergraben wurden (S. 46-344, 344-518), und deren Auswertung vor (S. 616-665). Als mehr oder weniger eigenständiger Teil schließt dies den unter Mitarbeit von Susanne Hummel und Marthe Frischalowski entstandenen Exkurs zu den Menschenknochen ein (S. 518-616). Der zweite Teilband versammelt auf weiteren 200 Seiten Listen, den Fundkatalog mit Beschreibungen aller Objekte und zahlreichen Umzeichnungen sowie Tafeln. In einem Schuber, als dritter Teilband konzipiert, sind großformatige Karten beigegeben. Schon die Aufteilung sowie die Umfänglichkeit der Materialaufbereitung ist bemerkenswert.

Gefunden wurde, so der Stand der Untersuchungen nach vorliegender Publikation, ein Begräbnisplatz des 10.-9. Jahrhunderts v. Chr., der demnach der jüngeren Urnenfelderzeit, also der späten Bronzezeit, zuzurechnen ist. Der Begräbnisplatz beherbergte 57 Individuen. Etwa 90% hiervon lassen sich einer Großsippe zuordnen, die bis zu 5 Generationen hinweg ihre Toten an ein und derselben Stelle zur Ruhe bettete. Den Fundumständen nach – außer einem Skelett lagen die Knochen über den Höhlenboden verstreut – werden es sekundäre Bestattungen gewesen sein. Dies ist bemerkenswert, denn somit ist erstmals für die Urnenfelderzeit eine über einen längeren Zeitraum hinweg genutzte Familiengruft greifbar. Die Beifunde geben bisher unbekannte Einblicke in den damaligen Totenkult und die Begräbnispraxis, gerade was die sonst oft nicht erfassbare Vielfalt der urgeschichtlichen Bestattungssitten, besonders bezogen auf mehrphasige Riten, betrifft. Die bis dato bekannten Funde und Befunde der Lichtensteinhöhle werden seit 2008 in einer von der Öffentlichkeit gut aufgenommenen Dauerausstellung im HöhlenErlebnis Zentrum in Bad Grund präsentiert.

Flindt verortet die das Grab nutzende Sippe in der zeitgleich besiedelten sog. Pipinsburg nahe Osterode am Harz. Die Knochenreste zeigen, dass sich die Bestatteten in einem körperlich gesunden Zustand befanden, keine schwere körperliche Arbeit verrichteten und anscheinend eines natürlichen Todes in für damalige Verhältnisse vereinzelt hohem Alter von bis zu 60 Jahren verstarben (Abb. 443, S. 604). Er mutmaßt aus allen Befunden heraus, dass es sich um Mitglieder „einer politischen oder geistlichen Führungsschicht“ (S. 677) gehandelt haben könnte, deren wirtschaftliche Grundlage auf Salzabbau und -handel fußte. Die Verbindungen über Handelsstraßen in die nähere Region, aber auch in weiter weg im Süden gelegene Gebiete sind gewiss ein Indiz für die merkantilen Unternehmungen der Großfamilie, doch neben dem von Flindt erwähnten Salzabbau in der nahe gelegenen Söse, könnte der im Harz weit verbreitete Kupferabbau Grundlage des Reichtums jener Sippe gewesen sein. Nicht weit entfernt liegt Düna, dessen gut belegte Verhüttung von Iberger und Lerbacher Eisenerzen seit dem 1. Jahrhundert v. Chr. vielleicht zeitlich noch weiter zurückgreift und auch andere Gruben miteinschloss. Für einen denkbaren Bronzehandel sprächen auch die verschiedenen chemischen Zusammensetzungen der im Grab gefundenen Objekte.

Die Veröffentlichung der Grabungsergebnisse, die zwischen 1993 und 2016 erzielt wurden, ist vorbildlich. Die vom Verfasser gesteckten Ziele, Vorlage und Analyse aller Grabungsbefunde, Veröffentlichung eines vollständigen Fundinventars, Klärung der Art und Bandbreite der anthropogenen Aktivitäten, Analyse der kulturellen Beziehungen des südwestlichen Harzvorlandes sowie Vergleich der Lichtensteinhöhle mit dem regionalen und überregionalen Umfeld (S. 16-17) wurden in bemerkenswerter Ausführlichkeit und Transparenz erreicht. Eine exzellente Bebilderung und Kartenbeigabe verdeutlichen die textlichen Erläuterungen. Der durchgängige Farbdruck ist von hervorragender Qualität, und die Verarbeitung der Bände ist auf eine dauerhafte Benutzung angelegt. Zukünftige Untersuchungen zur Urnenfelderzeit werden diese Präsentation eines einmaligen Fundumstands als große Bereicherung zu schätzen wissen.