Dark Tourism
Reisen zu Stätten von Krieg, Massengewalt und NS-Verfolgung

„Darf man am Denkmal für die ermordeten Juden Europas eine Bratwurst essen oder in Auschwitz ein Selfie knipsen?“ (S. 8), fragen die Herausgeber Frank Bajohr und Axel Drecoll provokant und führen damit hinein in die Diskussion um Dark Tourism, also Reisen zu makabren und mit Tod verbundenen Orten, wie z. B. Schlachtfeldern, Tatorten, Friedhöfen oder auch Gedenkstätten. Häufig sind über 50% der Besucherinnen von Gedenkstätten im Rahmen einer touristischen Reise dort – Tendenz steigend. Das Besuchen dunkler Orte hat jedoch den Ruch des Trivialisierenden und niederer Beweggründe – und provoziert Fragen nach Normen: Darf man einen solchen Ort überhaupt touristisch besuchen?

Seit Jahrzehnten wird Dark Tourism im angloamerikanischen Wissenschaftsbereich beforscht. Die Arbeiten näherten sich dem Phänomen meist historiografisch-komparatistisch, definitorisch präzisierend oder aus der Perspektive der Tourismusforschung an (S. 24). Doch genaue Erkenntnisse über Beweggründe, Einstellungen und Praktiken der Touristen fehlen immer noch. Deswegen veranstalteten die Herausgeber 2017 eine Konferenz zum Thema, aus der auch der vorliegende Sammelband hervorging.

Die einzelnen Beiträge nutzen das Phänomen des Dark Tourism, um die vermeintlich entgegengesetzten Phänomene von Tourismus und Gedenken zu hinterfragen und nach Motivationen, Hintergründen, der aktuellen Erinnerungskultur und der produktiven Nutzung dieser Reiseform zu fragen. In den Blick genommen werden dafür Gedenkstätten, allen voran Auschwitz-Birkenau, und weniger klar markierte Stätten des Holocaust in Mittel- und Osteuropa, aber auch Täterorte wie der Obersalzberg, Orte des Mussolini-Tourismus im heutigen Italien und Gedenkstätten des Völkermords in Ruanda. Auch die in den Blick genommenen Gruppen reichen von deutschen und internationalen Touristen über Schülergruppen, ehemalige deutsche Juden, israelische Satiriker bis hin zu Angehörigen von gefallenen Soldaten.

Da die Autoren aus der Geschichts-, Kultur-, Sozial- und Literaturwissenschaft stammen, variieren die Methoden und Untersuchungsgegenstände: Mal werden beispielsweise Texte von Jugendlichen komparativ analysiert (Fiona Roll), mal werden soziale Praktiken anhand von Werbematerial und Texten der Deutschen Kriegsgräberfürsorge untersucht (Wiebke Kolbe), oder qualitative Besucherbefragungen am Obersalzberg durchgeführt (Wolfgang Aschauer, Miriam Foidl, Martin Weichbold).

In diesen Arbeiten zeigt sich das Phänomen von Dark Tourism als Anzeiger für die Veränderung von erinnerungskulturellen Bedürfnissen und der Suche nach authentischen Erfahrungen. Touristische Angebote vor Ort, wie sie Reiseagenturen anbieten, formen Erwartungen und Verhalten mit und können den Kontext schaffen, um touristischere Verhaltensweisen wie die eingangs erwähnten Selfies zu fördern. Doch Ausstellungs- und Social-Media-Konzepte, die auf diesen Besucherkreis ausgerichtet sind, könnten initiale Motivationen aufgreifen und in Bahnen respektvollen Gedenkens und Lernens lenken. Aus dieser Erinnerungskultur fallen bisher jedoch wichtige Gruppen wie die ehemaligen deutschen Juden oder die Mizrahim (die nach Israel eingewanderten Juden aus Afrika und Asien) und auch Orte an der Peripherie Europas heraus. Der Blick über die Ländergrenzen hinweg zeigt zusätzlich, wie Orte mit einer dunklen Vergangenheit andere Funktionen erfüllen können, indem sie zum Beispiel Geschichte verbrämen (wie im Falle Italiens) oder die Vergangenheit produktiv für die Gegenwart nutzen (wie es Ruanda tut).

Die Vielgestaltigkeit der Beiträge führt dazu, dass das Phänomen des Dark Tourism diffus bleibt und je nach Schwerpunktsetzung der einzelnen Beiträge leider hin und wieder aus dem Fokus gerät. Doch dies wird längst aufgewogen durch die praktischen Erkenntnisse für die Gestaltung der gegenwärtigen Erinnerungskultur und die Rolle, die Forschende, Lehrende oder Kulturschaffende in ihr einnehmen können. Wegen dieser praktischen Einschläge, der Vielgestaltigkeit der Forschung und Quellen, dem Ernstnehmen der Wahrnehmung von Touristen und wegen des diversen Autorenteams ist der Sammelband eine anregende Lektüre nicht nur für Forschende dieses Bereichs.