Die Zehn Gebote
Verstehen, was wir tun können

Kirchenkabarettist und Professor an der Evangelischen Fachhochschule in Bochum Okko Herlyn geht in seiner aktuellen Publikation Die zehn Gebote der Frage nach, in wie weit die bekannten jüdischen Texte der Bibel als Kompass in gegenwärtigen Alltagserfahrungen taugen. Provokant stellt er zur Diskussion, ob sich mit Hilfe Jahrtausende alter Regeln, die im Denken in Kategorien von „Knecht“ und „Magd“ (S. 10) (oder besser vielleicht „Sklaven“) entstanden sind, noch ein Bezug zum aktuellen Tagesgeschehen herstellen lässt.

In seiner Einleitung („Zwischen Parteitag, Heino und ‚Quick‘“; S. 7-17) skizziert er die Themen seiner Fragestellungen und geht auf den Ursprung der Zehn Gebote sowie die verschiedenen Fassungen davon in Ex 20,2-17 und Dtn 5,6-21 ein. (S. 13-17) Elf weitere Kapitel dienen Herlyn dazu, die einzelnen Gebote aufzulisten und inhaltlich unter verschiedenen Gesichtspunkten vorzustellen. Für seine Leserschaft, so das Ziel des Autors, sollen sich daraus Orientierungen für ein verantwortungsvolles gesellschaftliches Miteinander ableiten.

Das erste Gebot „Ich bin der Herr, dein Gott“ interpretiert Herlyn als Präambel der nachfolgenden Regeln, die – hier ist dem Verfasser uneingeschränkt zu folgen – ein Zugehörigkeitsmerkmal ausdrückt. (S. 18-28) „Keine anderen Götter haben“ (S. 29-40) schließt demnach eng an seinen Vorgängertext an. Der Autor führt aus, dass die mögliche Existenz anderer Götter nicht in Frage gestellt wird, wohl aber bestritten werde, sie sich eigen zu machen. Dadurch befreie sich der Mensch – ein Moment, das das gesamte Buch durchzieht – von den von ihm selbst erschaffenen Göttern einer „geschöpflichen Welt“ (S. 33). Herlyn folgt einerseits Luther, wenn er anstößt, „Dingen so viel Bedeutung“ beizumessen, ohne von ihnen selbst beherrscht zu werden (S. 38). Er deutet aber auch an, nicht in Abhängigkeiten beispielsweise bei interreligiösen Veranstaltungen anderer Glaubensgemeinschaften zu geraten: Wortwahl und religiöse Praxis setzen die Grenzen der Religionen zueinander (vgl. S. 30). Formal mag es der gleiche Gott sein, auf den sich Messe und Freitagsgebet beziehen, doch die verschiedene Auslegung, ihm zugehörig zu sein, lösen das Bild dieses einen Gottes auf. Dieser Aspekt Herlyns ist problematisch, weist doch schon das Christentum in seinen vielen Richtungen unterschiedliche Praktiken auf. Gehören sie daher nicht alle doch zu Gott? Nur, so Herlyn als Befreiungstheologe, wenn sie bereit sind „dem Ruf in die Freiheit zu folgen“ (S. 40). Diese Auslegung war dem jüdischen Gebot in jedem Falle fremd.

Im Bildnisverbot (S. 41-56) handelt der Autor einerseits auf den historischen Hintergrund Bezug nehmend das Für und Wider des mittelalterlichen Bildersturms ab, andererseits greift er unmittelbar in die Gegenwart aus und fragt, ob unsere moderne Welt nicht einer Bilderflut unterliegt, in der „ein Bild mehr als tausend Worte“ sagt (S. 46), gleichzeitig aber das Wort der Bibel wegen mangelnder gesellschaftlicher Kompetenzen wie Hören und Reden droht, verdrängt zu werden. Dass diesem (zweiten) Gebot eine völlig andere Intention inneliegt, macht Herlyn seiner Leserschaft an dem verwendeten hebräischen Begriff deutlich, der so viel wie „Kultstatue“ bedeute. Die Gläubigen sollen daher nicht einem Abbild ihres Gottes, sondern seinen Worten folgen, die in den Geboten und abschließend in der Bibel festgeschrieben sind. Ausgeschlossen wird dadurch, dass sich die Menschen einen Gott nach ihren Bedürfnissen selbst erschaffen, denn Gott habe sich in seinem Wort selbst bestimmt. Er kümmert sich um sein Volk, hilft ihm wie er es auch straft, erschafft und zerstört. Liegt aber nicht in der Omnipotenz des einen Gottes eben doch die Möglichkeit, sich das von Gott zu nehmen, was ich als Mensch gerade brauche, will man Herlyn an dieser Stelle entgegnen. Eben seine Größe, so lautet die Antwort, macht ihn unfassbar, dass er der Vorstellungswelt der Menschen entzogen ist, und er nur im Hören seiner Worte greifbar ist. Sich einem Bild zu entziehen, kann etwas Befreiendes in sich tragen, da man sich dem Wesentlichen nähern kann, argumentiert Herlyn, und erklärt das Bildnisverbot zum zentralen Element einer den Gott wie auch den Menschen beiderseits befreienden Religion.

„Den Namen des Herrn nicht zu missbrauchen“ (S. 57-68) vergegenwärtigt der Autor am assertorischen Eid, den Namen seines Gottes nicht zu Unrecht zu gebrauchen. (S. 64) Eine entsprechende Missachtung bleibt nicht folgenlos, sondern wirft die böse Tat auf den Urheber zurück. Dem stehe, so Herlyn, der Gebrauch des Namens Gottes als „höhere“ Legitimation (S. 65) über zahlreiche Epochen hinweg entgegen, wie er auch inflationär kirchlich wie außerkirchlich im Heute seiner eigentlichen Größe beraubt werde. Den Namen Gottes zu ehren oder eben zu heiligen bedeute, ihn mit Bedacht zu verwenden, schließt Verfasser das dritte Gebot ab.

Der von Gott festgesetzte siebente Tag als Ruhetag, der vor allem dazu dienen soll, sich der Besonderheit bewusst zu werden, zugehörig zu Gott zu sein, ist Herlyns Auslegung in seinem nächsten Kapitel („Den Sabbattag heiligen“; S. 69-85). Die Teilnahme daran ist Menschen aller sozialer Schichtungen wie auch den Arbeitstieren möglich, daher am Sabbat die ansonsten geltenden Hierarchien ausgesetzt sind, einmal als gleichberechtigter Teil der Schöpfung (Ex), zum anderen als Teil der Befreiung aus der Skalverei (Dtn).

Den Kern des fünften Gebots „Vater und Mutter ehren“ (S. 86-98) erweitert der Autor auf ein allgemeines Menschenrecht gleich dem des bundesdeutschen Grundgesetzes, das auch „für die Schwachen, die Verachteten, die Unterdrückten“ (S. 96f.) Geltung habe. Ihnen allen steht nach Herlyns Erläuterung „Würde“ bzw. „Respekt“ (S. 92) zu, die all zu oft in der heutigen Zeit wie wohl auch in der Entstehungszeit der Zehn Gebote keine Selbstverständlichkeit sind bzw. waren.

Das Tötungsverbot („Nicht töten“; S. 99-112) orientiert sich bei Herlyn streng an der Auslegung des Heidelberger Katechismus (dort Frage 106): Es ist zum einen direkt die vorsätzliche Tötung selbst oder indirekt die Anstiftung hierzu sanktioniert, zum anderen nach christlicher Auslegung auch die Herabwürdigung durch Worte (vgl. S. 105), im Sinne einer Ehrfurcht vor dem Leben (vgl. S. 111).

Das Verbot des Ehebruchs wird vom Verfasser in den Kontext der sozialen Absicherung innerhalb einer Großfamilie gesetzt, die die Lebensgrundlagen aller Beteiligten absichert, der die Frau als Besitz angehört. Zudem wird es unter dem Aspekt der Treue subsumiert, die beide Partner einander garantieren, und damit ein Abbild des Bundes Gottes mit seinem Volke wiederholen.

Im Kapitel „Nicht stehlen“ (S. 129-144) wird provokativ diskutiert, ob dieses Gebot „eine Art religiöser Überhöhung bürgerlichen Besitzstanddenkens“ (S. 131) sein könne. Herlyn relativiert das „Stehlen“, indem er es als Bereicherungsverbot auslegt (vgl. S. 136f.), das auch Menschen vor Sklaverei schützen soll.

Das neunte Gebot „Nicht falsch Zeugnis reden“ siedelt der Verfasser im jüdischen Rechtssystem an und setzt es weitgehend mit dem Meineid gleich (ohne ihn zu benennen). (S. 145-160) Von dort habe es den Weg zu einem allgemein gesellschaftlich anerkannten Gebot wider die Lüge gefunden. Entschuldigt sei sie, wenn der Gegenüber durch die Lüge keinen Schaden nehme (vgl. S. 156f.). Entwicklungsgeschichtlich wäre ein Hinweis auf die altorientalischen Schwurformeln mit theophoren Elementen interessant gewesen.

Lutherisch legt Herlyn das zehnte Gebot „Nicht begehren“ (S. 161-174) als mögliche Sünde „mit Gedanken, Worten und Werken“ (S. 166) aus. Das Gebot sei objektbezogen und soll der Habsucht begegnen. Eine grundsätzliche „Lust- und Sinnesfeindlichkeit des Glaubens“ (S. 168) ist daraus nicht abzuleiten. Für den Verfasser ist es inhaltlich eng mit dem achten Gebot verwandt (vgl. S. 172). Mit Ernst Lange erwähnt der Verfasser darüber hinaus den Aspekt des Neids, der ebenfalls in der Auslegung dieses Gebots denkbar ist.

Am Ende der Zusammenschau der Zehn Gebote tut Herlyn die Frage auf, wozu sie „überhaupt da sind“ (S. 175-183). Seine Antwort umfasst drei Perspektiven: die des Rechts und der Ordnung, die der Theologie und die der Befreiung. Mit einem Ausblick auf Einzelfragen und Rezeption der Bibel („Hilfreich zu wissen“; S. 184-201) beschließt Herlyn seine Ausführungen der Zehn Gebote.

Seine Betrachtung fußt weitgehend auf den Auslegungen des Heidelberger Katechismus, den er für die interessierte Leserschaft mit zahlreichen Bibelverweisen und -zitaten auffüllt. Für Herlyn steht die Befreiung als zentrales Element in den Zehn Geboten: Die Befreiung aus der ägyptischen Knechtschaft führt geradewegs in „eine neue, freie Zukunft“ (S. 179), in der wir heute leben. Die Zehn Gebote als Möglichkeit und nicht als Verbote zu verstehen, ist die Quintessenz Herlyns Buches.

Alles in allem ist sein Blick auf die Zehn Gebote inhaltlich nicht originell, sein Schreibstil aber flüssig und kurzweilig. Seine gesuchten Bezüge greifen nicht immer unmittelbar den Inhalt der jeweiligen Gebote auf, sind aber aus dem Leben gegriffen und gut nachvollziehbar. Einer protestantisch vorgebildeten Leserschaft ist das Buch als allgemeine, vergnügsame und gut verständliche Einführung sehr zu empfehlen.