Weil Bücher unsere Welt verändern
Vom Nibelungenlied bis Harry Potter

Das Buch ist eine der nachhaltigsten Kulturleistungen der Menschheit. Und trotz Audio- und Videoangeboten oder des verstärkten Aufkommens digitaler Medien hat das gedruckte Werk nichts von seiner zivilisatorischen Bedeutung eingebüßt. Es gibt einen Rückgang im Umsatz verkaufter Exemplare, doch greift er nicht die gesellschaftliche Akzeptanz des Buches als solches an, sondern seine Vermarktung. Dass dies Auswirkungen auf den Buchmarkt hat und zu massiven Einschnitten in der Vielfalt und Ausrichtung der verlegerisch Tätigen führt, wird eine Konsequenz sein – die vor allem dadurch verzerrt ist, da politisch durch die Forderung nach open access und Digitalisaten das Zusammenspiel zwischen Verkäufer und Käufer von Druckwerken zum Nachteil von Verlagen und anderen Anbietern massiv beeinträchtigt wurde. Wie mit der Verbreitung des Drucks die Schreib- und Lesekompetenz gesteigert wurde, wachsen die Ängste, mit einem Rückgang der Verbreitung des Buches sinke die Kenntnis des Lesens und Schreibens. Die ebenfalls politisch initiierte Rechtschreibreform scheint im Nachhinein betrachtet Vorschub geleistet zu haben, die Entwicklung geschriebener Sprache nachhaltig auszubremsen. Die Einschränkung unabhängiger kommunikativer Mittel wie des Buches etwa hat es zu allen Zeiten in der Menschheitsgeschichte immer wieder gegeben (und gibt es deutlich erkennbar immer noch), um gesellschaftliche und /oder zivilisatorische Prozesse einzuschränken. Bücher sind und waren der Funke, der Umstürze entfachte und Ideen überregional wie Epochen übergreifend als eine Art Kammer kultureller Kenntnisse bewahrt. Aus dieser ihnen eigenen Geschichte heraus wird eine Gesellschaft an ihnen festhalten.

Im Bewusstsein dieser kulturgeschichtlichen Entfaltung haben Andreas von Arnauld und Christian Klein 99 Titel herausgesucht, überblicksartig zusammengefasst und kommentiert, „die auf besondere Weise in Deutschland ihre Wirkung entfaltet haben“ (S. 7); wobei „Deutschland“ als ein durch die deutsche Sprache zusammengehaltener Kulturraum verstanden werden soll (vgl. S. 7). Unter die 99 ausgesuchten Bücher fallen Texte, die neue gedankliche, politische, kulturelle, wissenschaftliche oder rechtliche Impulse gegeben haben. Beide Autoren legen Wert auf die Feststellung, hier subjektiv entschieden zu haben und nicht mit dem Anspruch aufzutreten, einen Kanon gelesen zu habender Bücher vorlegen zu wollen. Eine kurze Einleitung führt in den historischen Kontext und die Rezeption ein, um zu erläutern, weshalb ein Titel Aufnahmen in diese Zusammenstellung gefunden hat. Diese Beschreibungen der vorgestellten Werke folgen keinem schablonenhaften Muster, sondern sind in der Schwerpunktsetzung und Länge variabel. Bis auf Goethe und die Gebrüder Grimm ist ein Autor lediglich mit einem Buch vertreten, Shakespeare darüber hinaus mit seinen gesamten gesammelten Werken.

Die beiden Verfasser haben ihre 99 Titel unter chronologischen Aspekten angeordnet: Homers Ilias (S. 10-12), Herodots Historien (S. 13-15) und Aristoteles‘ Politik (S. 16-18) machen den Anfang, an das Ende gerückt sind Rowlings Harry Potter (S. 376-380), die Online-Enzyklopädie Wikipedia (S. 381-383) und Kerkelings Ich bin dann mal weg (S. 384-386). Aus der zeitlichen Sortierung bricht – wie von den Autoren vermerkt – die Luther’sche Bibelübersetzung von 1534 aus; hier ist die Urschrift natürlich älter, die Wirkung der volkstümlichen Übersetzung aber derart immens, um sie an dieser Stelle eigens herauszustellen.

Anhand dieses Beispiels aber ist die Frage aufzuwerfen, ob – angesichts der Vorgabe, dass die vorgestellten Titel maßgeblich den deutschen Kulturkreis geprägt haben sollen – die Einsortierung nach Abfassungszeit der Texte, im Besonderen der antiken Texte, nicht kulturelle Zusammenhänge zerstört. Dass die Politeia des Aristoteles erst im 13. Jahrhundert in ursprünglicher Fassung greifbar ist, entfernt beispielsweise den antiken Autor von dem Scholastiker Thomas von Aquin, dessen Auseinandersetzung mit den antiken philosophischen Lehren ein wichtiger Baustein der eigenen Veröffentlichungen war. Von Arnauld und Klein weisen auf die „knifflige Aufgabe“ (S. 8) hin, eine zeitliche Einordnung vorzunehmen; und sie hätten mit einer offeneren chronologischen Reihung kulturelle Bezüge noch deutlicher werden lassen können. Sich dem hier selbst verordneten Vorsatz derart streng zu unterwerfen ist und bleibt der einzige, marginale Kritikpunkt an dem Buch, der die kurzweilige, informative und anregende Lektüre jedoch nicht im Geringsten zu schmälern vermag.

Besonders erwähnenswert und den Rahmen vergleichbarer literaturwissenschaftlicher Werke überschreitend, ist die Einbeziehung naturwissenschaftlicher, kulinarischer, kunsttheoretischer, orthografischer und rechtsgeschichtlich relevanter Werke, einschließlich also etwa des Bürgerlichen Gesetzbuches von 1900 (S. 273-275), die Grundlagen der allgemeinen Relativitätstheorie von Albert Einstein (S. 285-291) oder der „DDR-Küchenbibel“ Wir kochen gut (S. 355-357). Die Zusammenstellung von Büchern ist von beiden Verfassern nicht uneingeschränkt als Leseempfehlung konzipiert, im Gegenteil warnen sie explizit vor einem Werk: Hitlers Mein Kampf. Sie charakterisieren ihn als „verletzenden Text“ (S. 304), der seine Aufnahme in Weil Bücher unsere Welt verändern einzig der Tatsache verdankt zu dokumentieren, dass aus schriftlich niedergelegten „Gedanken Taten wurden“, die zugleich „das Todesurteil für Millionen“ waren (S. 309). Daneben haben der Otto-Katalog von 1950 (S. 340-342) oder das Microsoft® Benutzerhandbuch Windows® 3.1 (S. 373-375) kulturwissenschaftlich illustrierenden Charakter, als dass sie ein Muss in einem bibliothekarischen Handapparat sind.

Mit Weil Büchern unsere Welt verändern ist Andreas von Arnauld und Christian Klein eine kurzweilig präsentierte und zugleich interessante Zusammenstellung „vom Nibelungenlied bis Harry Potter“ (Untertitel) gelungen. Zahlreiche Autoren und ihre Werke sind der Konzeption des Sammelbandes nach zu erwarten gewesen (teilweise gehören sie zum Bestand des UNESCO-Weltkulturerbes), darüber hinaus können die beiden Verfasser mit Überraschungen aufwarten; diese fallen vor allem dadurch auf, dass sie die Definition von „Literatur“ überschreiten und thematisch ansonsten anderen Themenfeldern zugerechnet worden sind (dies gilt im besonderen Maße für die naturwissenschaftlichen Abhandlungen und die Handbücher bzw. Lexika). Häufiger begegnen dem Leser Bücher mit rechtshistorischen / juristischen Inhalten (Corpus Iuris Civilis, S. 25-27; der Hexenhammer, S. 50-52; Vom Recht des Krieges und des Friedens, S. 101-103; Die Rechte des Menschen, S. 145-147; Code Napoléon, S. 159-161; Bürgerliches Gesetzbuch, S. 273-275; Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, S. 328-332). Den von den Verfassern selbst formulierten Anspruch, „gelegentlich überraschen und vor allem gut unterhalten“ zu wollen (S. 9), haben von Arnauld und Klein mit der Veröffentlichung dieses kulturhistorischen Handbuches mehr als erfüllt.