Leonid Breschnew
Staatsmann und Schauspieler im Schatten Stalins. Eine Biographie

Sowjetische Machtlenker haben besonderen Touch: sie sind geheimnisumwittert, bäuerlich-brutal oder sympathisch-reformistisch. Ihre Affinität zu Deutschland und den Deutschen ist vielfältig dokumentiert. Ihre Lebensläufe sind weit weniger bekannt. So sind deutschsprachige Biographien über Leonid Breschnew (1906-1982), der am zweitlängsten die Sowjetunion regierte, überschaubar geblieben. Susanne Schattenberg, Osteuropahistorikerin an der Universität Bremen, schließt mit Leonid Breschnew, Staatsmann und Schauspieler im Schatten Stalins eine Lücke.

Das Leben Breschnews, ein Spannungsfeld „zwischen der Virilität der frühen Jahre und dem körperlichen Verfall seit 1975“ (S. 11), war lange nicht zu schreiben, Breschnew blieb ein Mann ohne Biographie. Verschlossene Archive und nicht freigegebene Akten sorgten dafür. Breschnews Anfangsjahre bleiben im spekulativen Dunkel, das sich auch über Kindheit und Jugend anderer Sowjetgrößen legt. Dem biographischen Ideal, von Breschnews Entourage Jahrzehnte später in „Memoiren“ niedergeschrieben, folgt Schattenberg nicht. Im Gegenteil: was die Historikerin aus zugänglichen validen Quellen rekonstruiert, ist eine gewollt andere Lebensbeschreibung, die sich der Stereotypen entledigt, die über den KPdSU-Chef verbreitet wurden. „Ein ganz normaler Sowjetmensch“ (S. 29-77) war demnach Breschnew unmittelbar nach Revolution und Hungersnot, „sein Leben scheint aus Studium, Jobben als Packer und Freizeitvergnügen wie Schauspielern und Dichten bestanden zu haben“ (S. 47). „Klassenkampfrhetorik“ (S. 52) des jungen Landvermessers und seinen Parteieintritt, „um nicht in Verdacht zu geraten, auf der falschen Seite zu stehen“ (S. 53), kann Schattenberg aus Breschnews Vita dennoch nicht ausblenden. Eher schon die Frage, ob der „Flurneuordner in unruhigen Zeiten“ (S. 49) an Verbrechen der Entkulakisierung beteiligt war, die Autorin verharmlosend „Kampagnen“ nennt (S. 53). Die historischen Umbrüche unter Lenin und Stalin erwiesen sich als Weichenstellungen: „Ohne Revolution und Industrialisierung wäre er womöglich Schauspieler geworden“ (S. 69).

Statt musischer Laufbahn im Frieden durchlief er politische „Karriere in Zeiten von Terror und Krieg“ (S. 79-125). Geschärfte Konturen des 30-jährigen kann Schattenberg auf dem Höhepunkt der Schreckensherrschaft Stalins aber nicht ausmachen, gehörte Breschnew doch „weder zu denen, die den Terror ins Werk setzten und aktiv vorantrieben, noch zu denen, die Freiheit und Leben verloren“ (S. 83). Das offizielle sowjetische Narrativ über Breschnew im Großen Vaterländischen Krieg ist überzeichnet, zuweilen frei erfunden: der Politruk wurde im Schützengraben nie gesichtet. Andererseits „lässt sich nicht bestreiten, dass Breschnew auch drei Kilometer hinter der Front sehr viel von dem Grauen sah, das den Krieg ausmachte“ (S. 114). Die Folgen dieses Krieges schufen aber auch „einen 'Ursprung' des Generalsekretärs“ – Breschnew wurde „Sowjetisierer der Karpaten“ (S. 116), wohin ihn die Sturzbäche von Krieg und Nachkriegszeit gespült hatten.

Breschnews „Lehrjahre eines Generalsekretärs I“ (S. 127-201) beginnen unter Stalins Ägide mit neuen Vorzeichen: ein politischer Aufstieg ist auch abseits von Intrige und Mord möglich. Durch Patronage wird Breschnew, nun gutaussehender Mittvierziger, „Organisator, Verwalter, Macher“ (S. 129), der schon 1945 Waffenrock und graue Parteikutte gegen modischen Dreiteiler mit Filzhut und Krawatte eintauschte, wie Schattenberg mit beigesteuertem Bildmaterial dokumentiert (S. 128). Breschnews Wirken an der Peripherie des Reiches war Gratwanderung zwischen Erfüllungspolitik der stalinschen ‚Hand, die nicht zittert‘ und reformfreudigem Auftreten, mit dem Breschnew als lokale Größe in Saporoschje, Dnepropetrowsk und Moldawien Aufmerksamkeit erzielte (S. 131-186). Loyalität gegenüber Stalin erwies sich für Breschnew sogar als Türöffner für den inneren Zirkel der Macht, dem er für wenige Monate „als Stalins Statist in Moskau“ angehörte (S. 186).

Die Dekade der Chruschtschow-Zeit bedeutete für Breschnew weitere „Lehrjahre eines Generalsekretärs II“ (S. 203-293). Vom Machtzentrum ins kasachische Nichts beordert, war für Breschnew Chruschtschows Neulandkampagne „ein weiterer Meilenstein in der Karriere“ (S. 206), konnte er doch in einer „Zeit, in der Chruschtschow die 'kollektive Führung', 'Kollegialität' und 'innerparteiliche Demokratie' zu Slogans machte“ (S. 213), erneut Führungsqualitäten beweisen. Das Amt des Vorsitzenden des Obersten Sowjets war für Breschnew bereits Kulminationspunkt seiner Laufbahn – nicht die Macht des Generalsekretärs. Denn hier war wie nirgends sonst „zu repräsentieren, sich dafür gut anzuziehen, Small Talk zu führen […] und von der wunderbaren Sowjetunion zu erzählen“ (S. 255), wofür sich Breschnews schauspielerisches Talent bestens eignete.

Im mächtigsten Amt der UdSSR legte „der fürsorgliche Generalsekretär“ (S. 295-345) Wert auf kollektiven Führungsstil, den Chruschtschow so vermissen ließ. Fürsorge schloss mit ein, dass „kein Parteikader mehr Angst vor willkürlichen Reformen und Versetzungen haben“ musste (S. 301). Breschnew schuf damit ein reziprokes Abhängigkeitsverhältnis zwischen Ihm und den Nomenklatura-Karrieristen in Partei und Militär, das politisch lähmte und zur Reformunfähigkeit im ganzen Land führen sollte.

Rücksicht war aber auch gegenüber den Alltagsbedürfnissen der Bevölkerung zu nehmen. „Leben und leben lassen“ (S. 347-411) bedeutete mehr, als nur für politische Stabilität zu sorgen. Für Schattenberg sind Breschnews Sozialprogramme eine „Kurskorrektur weg vom Primat der Schwerindustrie, hin zum Ausbau der Leichtindustrie“ (S. 371). Das Mehr an Fleisch, Wohnungen, Waschmaschinen und Autos, das die Fünfjahrespläne hervorbrachten, läutete dennoch kein sowjetisches Wirtschaftswunder ein. Die Sowjetunion blieb bis zu ihrem Ende ein Koloss der Schwerindustrie.

Erst ein „entwickelter Sozialismus“ (S. 413-453) zeigte, was der Generalsekretär wurde: Pragmatiker, Urheber neuer Leitbilder, Förderer der Volkswohlfahrt und Vater einer neuen Verfassung. Ein Restalinisierer wurde er nicht – so Schattenberg. Der ab 1965 durch Breschnew einsetzende staatliche Erinnerungskult des Großen Vaterländischen Krieges war Gelegenheit, den Heldenmut der einfachen Soldaten in den Mittelpunkt zu rücken. Die Retrospektive auf die Kriegsbiographien der Veteranen verdrängte die unter Chruschtschow eingeleitete Aufarbeitung des Stalin-Terrors. Doch die Tabuisierung Stalins bei gleichzeitiger Glorifizierung des Sieges über Hitler erwies sich als Quadratur des Kreises. Stalin zur Unperson zu erklären, förderte nur seine Rehabilitation, die sich unter Breschnew als leiser Kontinuitätsbruch in der Abkehr vom Stalinismus erwies. Für Schattenberg offenkundig zu leise.

Mit „Emotionen und Tabletten im Kalten Krieg“ (S. 455-571) bestritt Breschnew Außenpolitik. Auf westlicher Bühne hatte er dem ramponierten Image sowjetischer Außenpolitik, das Molotow und Chruschtschow hinterlassen hatten, „ein Ende zu setzen und zur Linie des westlichen Protokolls zurückzukehren“ (S. 456). Unter den Mächtigen der Ostblockstaaten war der Kremlherrscher für Schattenberg nur Erster unter Gleichen, der „sich immer um ihre Loyalität sorgen“ musste (S. 460). Über die negativen Folgen der Breschnew-Doktrin für das östliche Europa schreibt sie nichts. Platz bleibt, einen westlichen, rasenden, volksnahen und virilen Staatsmann Breschnew zu beschreiben, der Raubbau an seiner Gesundheit trieb (S. 506-521).

So sind „Ruhmsucht und Verfall“ (S. 573-609) auch passende Umschreibungen der letzten Lebensjahre Breschnews. Schattenbergs Bildmaterial zeigt ihn in Marschalluniform mit Siegesorden (S. 572). Doch aus dem dynamischen, tatkräftigen Protagonisten ist längst ein „Ritter von der traurigen Gestalt“ (S. 573) geworden, tablettensüchtig, krank und hilflos. Für Schattenberg kein Hindernis, Breschnew-Witze zum Besten zu geben (S. 575) und ihn als Exponent der Gerontokratie zu präsentieren, zu der sich die Sowjetunion entwickelt hatte. Die Stilisierung des Staats- und Parteichefs ging freilich nicht von Breschnew aus, denn am spät einsetzenden Personenkult um ihn war „eine systemimmanente Eigendynamik am Werk“ (S. 578).

Schattenberg gelingt es, mit Quellenmaterial aus russischen Staatsarchiven und auf der Basis von Erinnerungsliteratur von Zeitzeugen und Weggefährten Leben und politischen Aufstieg Breschnews dicht zu beschreiben. Der Mensch Breschnew erhält dabei konkrete, oft sympathische, zuletzt fast paternalistische Züge. Der Politiker Breschnew wird wohlwollend-milde gezeichnet, schwerwiegende Verfehlungen während seiner Amtszeit rechnet Schattenberg ihm nicht zu. Vorliegendes Werk ist auch politische Apologetik. Wenn Breschnew kein Hardliner und kein Restalinisierer war und „Wohlstand für alle“ zur Parteilinie machte, wie es Schattenberg bereits im Abstract des Klappentextes behauptet, dann fragt sich, weshalb wenige Jahre nach Breschnew Michael Gorbatschow für das politische Überleben der Sowjetunion eine Politik der Offenheit und Umgestaltung betreiben musste.