Das Verhältnis zwischen „Mensch“ und „Ding“ scheint für die antike Welt durch Platon klar definiert: Dinge sind Objekte der Wahrnehmung durch den Menschen und daher zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich betrachtet. Ihnen stehen die unvergänglichen, ewigen „Ideen“ gegenüber, die zwar in den Dingen als ihren Abbilder enthalten sind, dennoch – so Platon – existieren sie unabhängig von der Wahrnehmung in der Welt, die aus vergänglichem Material geschaffen ist und vergehen wird. Diese Ideen sind in der Wahrnehmung nicht greifbar, aber doch für den Menschen das anzustrebende Ideal. Werden Dinge nach nicht wahrnehmbaren, sondern durch das Denken beeinflusste Rahmenbedingungen sortiert, nähert sich der Mensch diesen Idealen an, ohne sie jedoch jemals zu erreichen. Daher lohnt sich also, Dinge zu durchdenken, wie in den sog. Thing Studies. Dieses Konzept der Kultur- und Kunstwissenschaft, das inzwischen Einzug in zahlreiche andere Disziplinen mehr wie z. B. die Ethnologie oder Soziologie gefunden hat (Mensch-Ding-Verflechtungen), wird in vorliegendem Band beispielhaft auf ausgesuchte Phänomene des griechisch-römischen Dingverständnisses angewendet. Objekte werden dabei in ihrer Materialität betrachtet oder durch archäologische Methoden aus ihrer möglichen Dekontextualisierung herausgeholt, in ihrer räumlichen Verbreitung ausgewertet wie auch in Relation zum Menschen gesetzt, auf den sie einen unmittelbaren Einfluss ausüben; wie auch Prozessen des Wissenstransfers und des kulturellen Wandels nachgeforscht wird. Gerade der Bezug zu den archäologischen Fächern ist hier besonders interessant, da zahlreiche andere Disziplinen von der Erfahrung jener Fachrichtungen im Umgang mit materieller Kultur lernen, die ein Interesse für dingliche Hinterlassenschaften bewahrt haben. Herausgeberin Ruth Bielfeldt hat sich hierfür zum Ziel gesetzt, „die Studien zur Antike in einen heutigen Fragehorizont“ zu setzen (Umschlagtext).
10 Jahre ist es nun her, dass in dem gleichnamigen Kolloquium, veranstaltet von der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, in offener Diskussion über Fachgrenzen hinweg die „Thing Studies“ erstmals in den Bereich der Altertumswissenschaften übertragen wurden. „Archäologie, Philologie, Ethnologie, Philosophie, Psychologie, Kultur- und Kunstwissenschaft“ (S. 7) sollten eine gemeinsame Begriffs- und Verstehensebene finden. Verschiedene Beiträge sind im anzuzeigenden Band anhand dreier Kategorien sortiert abgedruckt: Hinführung zum Thema, archäologische wie kunstgeschichtliche Fallstudien und performative-poetische Vergegenwärtigungen. Zum Einstieg in das Thema findet die Leserschaft einen klugen, die Frage nach Dingtheorien für die Altertumswissenschaften umreißenden Artikel von der Herausgeberin vor („Gegenwart und Vergegenwärtigung: dynamische Dinge im Ausgang von Homer“, S. 15-47). Sie setzt antike Begrifflichkeiten in den Kontext der Gegenwartsphilosophie und zu aktuellen Tendenzen der Kulturtheorie, auf deren Grundlage sie verschiedene Interpretationsansätze erarbeitet. Im Ergebnis sieht sie den aristotelischen Ansatz einer Freilegung dingeigener „energeia“ als fruchtbar für griechische Dichtung und bildende Kunst; die von Platon in seiner „Politeia“ formulierte Kritik an der Kunst als bloßer Abglanz von Ideen, der den Menschen in eine Scheinwelt führe, wehrt sie mit Aristoteles ab, der darauf verweist, dass Kunst und Sprache Resultate einer Dingaktivität sind und sich gegenseitig vergegenwärtigen. Diese Frage nach dem „Ding“ bei Platon und Aristoteles wird von Günter Figal, „Dinge als Gegenstände“ (S. 49-59) aufgegriffen, der als bester Kenner der Materie gelten darf. Seine kurze Übersicht reicht von den Vorsokratikern bis zu Husserl und zeigt beeindruckend, wie lange und wie bedeutsam die Frage nach einem „Ding“ für die europäische Menschheit in ihrem Denken ist und welche Ergebnisse sie dazu formulieren konnte. Eines davon, das „gegenständliche Denken“ (Goethe) leitet mittelbar zu Husserls „leibhafter Wirklichkeit“ über, die in der Erfahrung der Dinge mündet, ohne die es nach Figal keine Philosophie gibt. Friedrich Wolfram Heubach bietet in seinem kurzen Beitrag „Der Psychismus in seiner Bedingtheit“ (S. 61-66) skizzenhafte Ausführungen zum Henkel (vgl. S. 66). Er nimmt dabei engen Bezug auf sein Buch „Das bedingte Leben – Theorie der psycho-logischen Gegenständlichkeit der Dinge“ von 1987. Dinge tragen demnach Informationen eines möglichen „Mentalitätswandels“ in sich, der von beispielsweise Archäologen durch Clusteranalyse entschlüsselt werden kann. Der Henkel symbolisiert dabei den kontrollierten, damit vernünftigen, Umgang „mit sich, seinen Bedürfnissen und der Welt“ (S. 9). Wahrnehmungstheorien stehen in den Beiträgen von Hans Peter Hahn („Widerständigkeit und Eigensinn des Materiellen“, S. 67-88) und Thomas Schirren („Auf den Leib rücken: Aisthesis im Strom der Dinge“, S. 89-112) im Zentrum. Hahn arbeitet Anwendungsbereiche für Modelle von Wahrnehmungskonzeptionen nach wissenschaftsgeschichtlichen Vorgaben auf, Schirren fokussiert sich auf Demokrit als Vertreter der vorsokratischen Definition der Beobachtungsgabe und dem Problem der sinnlichen Erscheinung.
Gegenstand und Text sind Themen der Beiträge von Adrian Stähli, „Sprechende Gegenstände“ (S. 113-141) und Kathrin Müller, „Sprechende Oberflächen. Von der Schrift auf Dingen“ (S. 143-161). Stähli vertritt die These, dass Selbstbezeichnungen auf Dingen vom Initiator einer Schrift gewählt wurden, um sie durch den Lesenden rezitieren zu lassen. So werden die Texte affirmiert. Müller erweitert den Schriftgebrauch auf Dingen über die Identität des Stifters und die Wirkmacht des Objektes hinaus um den Aspekt der Bemächtigung eines Gegenstands mithilfe der Texte. Beide Thesen sind interessante Bereicherungen in der bisherigen Diskussion im Verhältnis zwischen Ding und Beschriftung. Auf ein partnerschaftliches Verhältnis im Umgang mit Gebrauchsgegenständen schließt Tonio Hölscher, „Im Bild noch lebendiger als in Wirklichkeit“ (S. 163-194) aufgrund verlebendigter Motive auf beispielsweise Keramik. Objekte werden mit menschlichen oder tierischen Körperteilen gebildet oder bemalt, um sie wie einen Partner dem Menschen gegenüber zu behandeln. Kaiserzeitliche Bild- und Figurenlampen setzt Ruth Bielfeldt in ihrem Beitrag „Lichtblicke – Sehstrahlen“ (S. 195-238) in eine situationsgebundene Verwendung; sie beleuchten Szenen und werden damit aktiver Teil dessen, das in ihren Lichtstrahl gerät, gleichzeitig auch Rezipient, da sie als Lichtquelle am Geschehnis partizipieren. Ihre Verwendung ist mithilfe bildlicher Szenen auf dem Lichtträger vorgegeben. Fernande Hölscher, „Gottheit und Bild – Gottheit im Bild“ (S. 239-256) „versichert“ (S. 11) die Realpräsenz einer Person oder einer Gottheiten in Bildern und Statuen (vgl. S. 243). Es geht dabei um die Frage, ob in der Vasenmalerei die Gottheit oder eine Statue einer Gottheit gezeichnet worden ist. Hölschers Antwort darauf ist, aufbauend auf der Untersuchung von Tanja S. Scheer, Die Gottheit und ihr Bild (München 2000), dass sich der Maler keines Unterschieds bewusst gewesen sei. Die Statue einer Gottheit lasse sich daher nicht auf ein „Ding“ oder „Abbild“ reduzieren, sondern wirkt wie ein Magnet, zu dem es die Gottheit zieht, wenn der Mensch über die Statue die göttlichen Mächte anruft, die sich in ihr oder in ihrem Umfeld manifestiert, aber nicht zwangsläufig eingreift, sondern z. B. lediglich betrachtend anwesend sei. Die sehr differenzierte Betrachtung Hölschers ist mit zahlreichen textlichen und bildlichen Quellen gut untermauert und überzeugt. Jedoch fehlt schmerzlich eine Übersicht und Bezugnahme zu der seit Jahrzehnten andauernden Diskussion zu diesem Thema, sei es als Einleitung zu dem Artikel, sei es als Nennungen relevanter Literatur im Fußnotenapparat.
Die den Band abschließenden drei Beiträge von Frank Müller, „Dramatische Interaktionen“ (S. 257-273), Antje Wessels, „Zwischen Illusion und Distanz“ (S. 275-300) und Nadia J. Koch, „Die totale Präsenz des Dinges“ (S. 301-315) untersuchen die „Interaktionsformen von Ding und Mensch“ (S. 257) in der Dramenhandlung attischer Aufführungen am Beispiel der Elektra des Sophokles, Vergegenwärtigungsstrategien mithilfe hellenistischer Epigramme auf Kunstwerken sowie „das Herstellen von Präsenz“ (S. 301) durch Bildlichkeit (enargeia) in Auseinandersetzung mit Pseudo-Longins Traktat Über das Erhabene. Insgesamt sind dem Buch 69 Abbildungen beigegeben (S. 319-377).
Die Zielsetzung des Buches, die „theoretische und thematische Vielfalt“ (S. 7) in den Mensch-Ding-Verflechtungen für den Bereich der klassischen Altertumswissenschaften abzubilden und die von Herausgeberin Bielfeldt beanspruchte „konstruktivistische Weltsicht der Altertumswissenschaften“ (S. 22) zu überwinden, ist voll erfüllt. Selbst wenn einige Beiträge verhältnismäßig kurz ausfallen und in einigen Aspekten etwas breiter hätten ausgebaut sein können, ist entscheidender, dass der Stand zu der Bearbeitung der Dingtheorien über Fachgrenzen hinweg Aufnahmen gefunden hat; leider haben nicht alle Teilnehmer der Konferenz ihre Beiträge zum Druck aufbereitet. Es ist ein generelles Manko bei Sammelbänden, dass die einzelnen Artikel selten oder gar keinen Bezug aufeinander nehmen; dadurch entstehen einerseits Redundanzen, andererseits sind gedankliche Weiterführungen teilweise schwer erkennbar. Wenige Beiträge lassen das Unterfangen vermissen, über Fachgrenzen hinweg Dinge in einen übergeordneten Kontext stellen zu wollen. In verschiedenen Ausführungen überrascht, dass die englisch- und französischsprachig erschienene Literatur zu dem Themenkomplex selten Nennung findet. Diese Kritikpunkte können aber den großen positiven Gesamtwurf nicht entscheidend negativ beeinflussen.