Martin Opitz, der Verfasser des „Buches von der deutschen Poeterey“, zählt zu den Leitfiguren der deutschen Sprach- und Literaturgeschichte. Dem Oberhaupt der Schlesischen Dichterschule gegenüber hat sein Zeitgenosse und Antipode Georg Rudolf Weckherlin (1584–1653) seit jeher einen schweren Stand. Diesen anderen, bis heute vernachlässigten „Pionier deutschsprachiger Barockdichtung“ (S. XVII) hat nun der Germanist Heiko Ullrich ins Rampenlicht gerückt. Ullrich, der in den letzten Jahren unter anderem mit einer bahnbrechenden Monographie über Wilhelm Raabe (Wilhelm Raabe zwischen Heldenepos und Liebesroman. „Das Odfeld“ und „Hastenbeck“ in der Tradition der homerisch-vergilischen Epen und der historischen Romane Walter Scotts. Berlin/Boston 2012) und mit gewichtigen Arbeiten zur Dichtung der Frühen Neuzeit hervorgetreten ist, hat ein hochkarätiges Autorenkollektiv zusammenzurufen vermocht, bei dem unterschiedliche Schulen, Perspektiven, Zugänge und Interessen zwanglos zueinander in Beziehung treten. Angewandt auf solche harmonierende Vielstimmigkeit, erhielte der im Allgemeinen für eher nüchterne Belange reservierte Ausdruck ‚Synergien‘ einen emphatischen Sinn. Bei der Lektüre des Sammelbandes, der im verdienstvollen Ralf Schuster Verlag, einer Stammadresse der Barockforschung, erschienen ist, fühlt man sich bisweilen versucht, sich auszumalen, was geschehen wäre, wenn Weckherlin es in puncto Durchschlagskraft mit Opitz hätte aufnehmen können: kein haltloses Gedankenspiel, sondern Regung eines Möglichkeitssinns, wie er sich bei der Begegnung mit Literatur und Sprache wohl mitunter meldet, und das in diesem Fall mit einiger sachlichen Berechtigung. Ullrichs These nämlich, dass Weckherlins Œuvre, das im Zeichen »eines schicksalshaften Zusammentreffens von glanzvoller Hofhaltung, internationalem Flair und erwachendem Nationalbewusstsein« (S. IX) steht, trotz seiner augenfälligen restaurativen Note „eine ernstzunehmende Alternative zum bürgerlich-gelehrten Opitzianismus“ (ebd.) bildet, wird durch seinen Beitrag ebenso wie durch die übrigen Aufsätze eindrucksvoll bestätigt.
Dass Weckherlin in der Versenkung verschwand, hat freilich Gründe: Zwar kann man ihm zugutehalten, dass er mit seiner Fixierung an die Zeit vor dem Dreißigjährigen Krieg nicht einfach nur eskapistischen Anwandlungen nachgab – das tat er sehr wohl auch –, sondern ästhetisch-soziokulturelle Tendenzen, die durch die geschichtlichen Ereignisse gewaltsam gekappt wurden, in seinem Werk verlängerte, Untergegangenes zurückrief, doch fehlt es an gegenläufigen Zügen, die seine poetische Imago der Vergangenheit vor dem Abgleiten in blinden Anachronismus hätten bewahren können. (Dass Weckherlin dessen ungeachtet vor hetzerischen Parolen nicht zurückscheute, steht auf einem anderen Blatt.) Ullrichs Untersuchung mit dem Titel „Parisurteil und Reformation“ legt obendrein die Deutung nahe, dass Weckherlin eine ausgesprochene Neigung hatte, sich in konzeptuelle Sackgassen hineinzumanövrieren bzw. sich auf programmatische Setzungen zu verpflichten, die die produktiven Potentiale seines Dichtens stillstellten. So gelangt Ullrich etwa bei seiner Auseinandersetzung mit dem höfischen Weckherlin zu der Einschätzung, dass dieser sich bei der Transfiguration antiker Mythologeme und Topoi für das Fürstenlob zwar „des historischen Abstands zur Antike stets bewusst“ geblieben sei und „die vorbildlichen poetischen Mittel durch die Reflexion gebrochen rezipiert“ (S. 86f.), aber „den der Poesie angewiesenen ‚Sitz im Leben‘“ letztlich vollends „auf die höfische Sphäre“ „verengt“ (S. 87) und sich so „selbst von der weiteren Entwicklung der deutschen Literaturgeschichte“ (ebd.) isoliert habe. Unter den Faktoren, die der Breitenwirkung seines Schaffens abträglich waren, hebt Ullrich neben dem Londoner Exil – der Dichter stand seit 1625 im Dienst des englischen Staatssekretariats – Weckherlins Frankophilie hervor: Indem er sich in metrischen Fragen an französische Vorbilder anlehnte, geriet er gegenüber Opitz, dessen Reformbestrebungen von der Literatur der „sprachverwandten Niederlanden“ (S. VIII) beeinflusst waren, strategisch in einem entscheidenden Punkt ins Hintertreffen.
Der Band gliedert sich entsprechend dem Titel – „Privatmann – Protestant – Patriot – Panegyriker – Petrarkist – Poet“ – in sechs Rubriken auf, die jeweils eine zentrale Facette von Weckherlins Persönlichkeit und Werk beleuchten und so insgesamt ein literatur- und kulturgeschichtliches Panorama von bemerkenswerter Farbigkeit und Schärfe in den Details aufspannen. Überraschend nahe kommt dem pater familias Anna Linton: Sie beschäftigt sich mit Weckherlins Briefen an seine Tochter, die eine Fundgrube nicht nur für die Biographen, sondern auch für die Historiker sind. Dem Protestanten ist der bereits erwähnte Beitrag des Herausgebers gewidmet: Es handelt sich um ein inhaltlich weit ausgreifendes philologisches Bravourstück von eminenter Tiefenschärfe, das mit gleichermaßen ingeniösen und stringenten Auslegungen auf einer breiten stofflichen Basis aufwartet. Ullrichs Deutungen extrapolieren von prägnant vorgetragenen Belegen oder treffsicher aufgespürten, ‚sprechenden‘ Merkmalen in Weckherlinschen Texten auf größere konzeptuelle Zusammenhänge, ohne dabei je die Fühlung mit den Materialien zu verlieren.
Weckherlins Stellung im sprachpatriotischen Diskurs seiner Zeit ist Gegenstand einer eingehenden diskurssemantischen Analyse von Sebastian Rosenberger, dem es gelingt, den Autor im Nachvollzug seines „sprachreflexive[n] Denken[s]“ (S. 94) in einen präzise konturierten ideengeschichtlichen Kontext einzuordnen. Dabei ist es bemerkenswert, dass Rosenberger stärker als die programmatischen Einlassungen die Dichtungen Weckherlins in den Blick nimmt und somit auch poetische Ausprägungen sprachreflexiver und sprachkritischer Aspekte erfasst. Dabei zeigt sich, dass die den Texten eingesenkten theoretischen Inhalte ästhetische Impulse entbinden; hierfür ist etwa die von Rosenberger herangezogene Satire „Ode. Oder Paranesisch, Bacchisch und Satyrisches Gemüß“ exemplarisch, in der Auswüchse vermeintlich fehlgeleiteter Polyglossie, der Vermengung von Sprachen in höheren Kreisen, eine hochartifizielle Darstellung voller Brillanz und Sprachwitz und so – der eigentlichen Absicht des Patrioten Weckherlin entgegen – letztlich auch eine poetische Rehabilitierung erfahren.
Panegyrische Texte stehen im Mittelpunkt zweier sehr subtiler Studien von Michael Hanstein und Ingrid Laurien. Hanstein zeichnet motivisch-inhaltliche sowie formale Verbindungslinien zwischen Weckherlin und anderen Dichtern nach und betrachtet das der nachmaligen Elisabath Stuart von England gewidmete erste Stück der „Oden und Gesänge“ von 1618 vor einem gesamteuropäischen Horizont. Er macht den zeitgeschichtlichen Hintergrund charakteristischer Textpassagen sichtbar, begnügt sich aber nicht damit, deren dokumentarisches Substrat aufzuweisen, sondern benennt auch die vielfältigen rhetorischen Mittel, die bei dessen dichterischer Ausformung Verwendung finden. Im Gegenzug legt er dar, wie Topoi und gattungstypische Merkmale für pragmatische Zwecke instrumentalisiert werden. Dafür bieten auch Weckherlins Gedichte auf Elisabeth von Hessen-Cassel, auf die Laurien das Augenmerk lenkt, reichhaltiges Anschauungsmaterial; Lauriens minuziöse und argumentativ stringente Untersuchung dieser Texte setzt die ihnen zugrunde liegende strategische Absicht ins Licht und bestimmt sie schlüssig als zentrale Komponenten eines künstlerischen Bewerbungsschreibens. Die detailreiche Studie gibt zudem ein plastisches Bild von der nordhessischen Hofkultur.
Weckherlins galante Seite bringen zwei Texte von Viktoria Adam und Dieter Martin zum Vorschein. Unter der Überschrift „Hyperbolisches Frauenlob und (un)erfüllte Liebe“ unterzieht Adam Weckherlins petrarkistische Sonette einer textimmanenten Interpretation, die durch Weite des Horizonts und komparatistische Expertise ebenso besticht wie durch Akribie und Sensibilität: zwei Tugenden, die bei ihr Hand in Hand gehen. Adam konstatiert, dass Weckherlins Texte „verschiedene, ja sogar konträr erscheinende Liebeskonzeptionen“ (S. 211) synchronisieren und in dieser inwendigen Mehrstimmigkeit für die „europäische Barockliteratur“ (ebd.) insgesamt mustergültig sind. Martin, der in Weckherlins poetologischen Eklogen ein Medium „agonale[r] Verhandlungen über den Petrarkismus“ gewahrt, liefert eindrückliche Belege für Eigenständigkeit, Gestaltungskunst und schöpferische Kraft des Dichters.
Diese Qualitäten kommen auch in der umfangreichsten Abteilung des Bandes, die dem Poeten Weckherlin vorbehalten ist und sich aus Arbeiten von Grandseigneurs der Barockforschung zusammensetzt, voll zur Geltung; aus Platzgründen kann dieser thematische Komplex hier nur mehr schlaglichtartig angerissen werden: Eröffnet wird die Rubrik durch zwei ebenso luzide wie innovative Abhandlungen von Christoph Deupmann und Dirk Werle, die gattungstheoretische Aspekte der Epigramme bzw. des Heldengedichts über Gustav Adolf erörtern und die jeweils unter Aufbietung eines reich ausgestatteten Methodenapparats zu höchst differenzierten Urteilen gelangen: Es sind dies auch stilistisch glanzvolle Texte, die als paradigmatisch für das Genre des wissenschaftlichen Aufsatzes gelten können. Imponierend sind weiterhin zwei magistrale Studien, die Weckherlins Umgang mit literarischen Vorlagen behandeln: Antonius Baehr nimmt sich eines Gedichts über das Parisurteil und seiner französischen Vorlage, Wilhelm Kühlmann einer Bearbeitung von Horazens carmen 3,9 an. Diese Beiträge, die sich durch Material- und Kenntnisreichtum auszeichnen, umrahmen eine sehr instruktive Untersuchung von Klaus Haberkamm, der Weckherlins „Kurzte Beschreibung. Deß zu Stutgarten, bey den Fürstlichen Kindtauf vnd Hochzeit, Jüngst-gehaltenen Frewden-Fests“ und Burtons „Anatomy of Melancholy“ höchst umsichtig zueinander ins Verhältnis setzt und bei seiner synoptischen Lektüre ein ausgeprägtes Gespür für Korrespondenzen aller Art, ja für ›unsinnliche Ähnlichkeiten‹ im Sinne Walter Benjamins unter Beweis stellt. Mit einer vom Herausgeber recherchierten Bibliographie, die die seit langem stagnierende Weckherlin-Forschung dokumentiert, schließt der Band ab. Er wäre seinerseits in dieses Verzeichnis aufzunehmen: als neues Referenzwerk, an dem sich künftige Arbeiten werden messen lassen müssen. Mit ihren souveränen philologischen Exerzitien haben Ullrich und die Autoren, die er um sich vereinte, weit mehr als das selbstgesteckte Ziel – die „Etablierung eines akademischen Diskurses zum Werk“ (S. XVII) eines wenig bekannten, ja vergessenen Dichters – erreicht: Sie haben einem Desiderat der Forschung auf vorbildliche Weise Abhilfe geschaffen.