Siegfried Kracauer
Eine Biographie

Den Einband der umfangreichen Kracauer-Biographie von Jörg Später, die bereits ein Jahr nach der Erstveröffentlichung in zweiter Auflage erscheint, nimmt die Reproduktion eines Fotos ein, bei dem es sich laut Vermerk auf der hinteren Umschlagklappe um den „Abzug“ von einem „zerbrochenen Glasnegativ“ handelt. Der Autor eröffnet sein Buch mit einer eingehenden Beschreibung dieses Porträts, für die sowohl Detailfreude wie das etwas forcierte Bestreben, eine hinter dem Sichtbaren verborgene symbolische Tiefendimension zu erschließen und so den Augenschein zu transzendieren, kennzeichnend sind. Das Bild, das Kracauer hier bietet, wird einer auf Wesensschau zielenden Betrachtung unterzogen, das von den äußeren Zügen des Konterfeiten auf dessen Person und Lebensumstände – um das metaphysisch aufgeladene Wort ‚Schicksal‘ zu vermeiden – extrapoliert. Später hält sich, was seinen Eindruck von Kracauers Äußerem anlangt, durchaus nicht bedeckt – sein Gesicht, so schreibt er, sehe „ramponiert“ aus, der Blick sei „etwas schief“, die Nase wirke „eingedrückt“, die Lippen schienen „aufgequollen“ – und apostrophiert seinen Protagonisten unverblümt als einen „traurig aus der Wäsche und in die Welt schauenden Vierzigjährigen“, als „Helden in trauriger Gestalt“ (S. 9). Zwar ist die Beschädigung des Glases „purer Zufall“ (ebd.), doch kann der Biograph nicht umhin, die Scherben als Emblem einer versehrten Existenz zu deuten, unter welchem er denn auch in der Folge seine Befunde versammeln wird. Mit der einleitenden Ekphrasis sind so der Grundton und ein zentrales Leitmotiv des Werkes angeschlagen: Später sieht es als Notwendigkeit an, der „Brüchigkeit des Daseins“ (ebd.), die Kracauer nicht nur reflektierte, sondern auf der Flucht vor dem nationalsozialistischen Terror auch am eigenen Leibe erlitt, die mithin einen seiner wesentlichsten persönlichen Erfahrungsgehalte bildete, bereits in der konzeptionellen Anlage seines Buches Rechnung zu tragen. Er erteilt denn auch der Prätention, dass ein so wenig geradliniges Leben wie das des vielfach heimgesuchten und doch ungemein widerstandsfähigen Kracauer in einer geschlossenen Erzählung nachzuvollziehen sei, welche ihre textuelle Kohärenz unbesehen auf jenes Leben zurückspiegelt, eine kategorische Absage und proklamiert im Gegenzug die Idee einer Biographie, die „diachron angelegt, aber episodisch strukturiert“ ist und somit „Lücken“ (S. 18) ausdrücklich in Kauf nimmt. Die darstellerischen Mittel zur Umsetzung dieses Modells, das unverkennbar vom späteren Kracauer beeinflusst ist, firmieren unter den programmatischen Doppelformeln „[a]nalytische Konzentrate und narrative Passagen, Makro- und Mikroperspektiven, Nah- und Großaufnahmen“ (S. 18f.). Des Weiteren macht Später geltend, dass sein Buch „extraterritori­al zur Forschung“ (S. 18) stehe, womit er implizit für sich in Anspruch nimmt, sich im Schrei­ben Kracauers Haltung anverwandelt und eine kompositorische Logik implementiert zu haben, die der intellektuellen Physiognomie des notorisch unangepassten Protagonisten, eines Solitärs, der sich neue Wege weit abseits der Hochkultur bahnte, gemäß ist.

Anders als die im ersten Kapitel abgegebene Absichtserklärung des Biographen erwarten lässt, wartet er nicht nur mit montageartigen Arrangements aus funktional disparaten Textkomponenten, sondern durchaus auch „mit großen Strukturen, Panoramen und Thesen“ (S. 513) auf, über denen sich gleichsam als Integrale der Spannungsbogen von Kracauers geistiger Vita wölbt, in der – tatsächliche oder vermeintliche – Gegensätze wie der von Kontinuität und Wandelbarkeit, Originalität und Traditionsbewusstsein, ins Idiosynkratische hineinspielende Eigensinnigkeit und Empfänglichkeit für äußere Impulse zum Austrag kamen. Kracau­ers thematisch weit ausgreifendes Œuvre, von dem die bekannten Arbeiten zum Film lediglich eine Facette bilden, ist sowohl durch kontinuierliche Entfaltungs- und Differenzierungsprozesse – wie sie etwa die Idee, dass sich aus kulturellen Epiphänomen ideologische, gesellschaftliche und politische Tendenzen herauslesen ließen, durchläuft – als auch durch Akzentverlagerungen, perspektivische Verschiebungen und Paradigmenwechsel charakterisiert. In dem reichen Repertoire an Formen, über das Kracauer verfügte – er legte neben feuilletonistischer und essayistischer Kurzprosa auch umfangreichere Studien, Monographien und die beiden autobiographischen Romane „Georg“ und „Ginster“ vor –, dokumentieren sich nicht nur unterschiedliche Ausdrucks- und Darstellungsintentionen, sondern auch komplementäre Ansätze zur ideologischen und historischen Kontextualisierung disparater kultureller und gesellschaftlicher Erscheinungen, die freilich nie bloß summarisch als Zeichen für etwas anderes behandelt, sondern in ihren morphologischen Zügen erfasst werden.

Unter den Meriten, die Später sich mit seinem Buch erworben hat, ist das vielleicht größte dies, dass er Einsichten in den komplexen Kreislauf von Kracauers Denken mit seiner seismo­graphischen Sensibilität eröffnet hat. Gerade die Ausführungen zu Kracauers theoretischen Arbeiten imponieren durch Souveränität und Präzision, sind zudem geschickt disponiert und in einer flüssigen sowie gut verständlichen Diktion gehalten. Später hat das Schrifttum Kracauers in seiner Gesamtheit im Blick, modelliert seine großen inhaltlichen Linien heraus und vermag es schlüssig zu periodisieren; zugleich schenkt er einzelnen Texten, die als prominent oder exemplarisch gelten können, und ihren Besonderheiten Aufmerksamkeit. Er ordnet sie jeweils auf wenigen Seiten in einen werkbiographischen Zusammenhang ein, spricht ihre Entstehungsbedingungen an, leuchtet ihre ideen- und erfahrungsgeschichtlichen Hintergründe aus und weist ihnen ihren Ort in der geistigen Topographie des 20. Jahrhunderts zu. So gelingen Später konzentrierte und informative Resümees, wie man sie eher von französischer als von deutscher Kommentarliteratur her kennt. Er weiß sie weiterhin dergestalt mit Quellen wie et­wa Briefauszügen zu umrahmen, dass sich größere Tableaus ergeben, auf denen sich neben der Genese der Texte, die gerade im Exil prekären äußeren Umständen abgerungen wurden, auch die Wechselbeziehungen zwischen Kracauer und Zeitgenossen wie zum Beispiel Theodor W. Adorno, Walter Benjamin, Ernst Bloch und Max Horkheimer, mit denen er in lebhaftem Austausch stand, abzeichnen. Zwar blieb dem studierten Architekten Kracauer – sieht man einmal von seinem Engagement als Redakteur bei der „Frankfurter Zeitung“ ab, das ihm zu beachtlicher Breitenwirkung verhalf – eine dauerhafte Anstellung an einer großen kulturellen oder wissenschaftlichen Institution verwehrt, doch konnte er sich vor und nach der Emi­gration auf weitgespannte soziale Netzwerke stützen, in die illustre Namen wie die soeben aufgeführten eingebunden waren. Da er trotz seiner Marotten überaus kommunikativ und empathisch war, unterhielt er zahlreiche private und berufliche Kontakte, die in Späters Darstellung verhältnismäßig großen Raum einnehmen. Der Biograph vermag es, ein facettenreiches und farbiges Bild von Kracauer als Mitspieler und Akteur in unterschiedlichen intellektuellen Milieus zu zeichnen und dabei auch diese selbst mitsamt ihrem theoretischen Horizont und in ihrem sozialen Aufbau deutlich zu umreißen. Er lässt dabei Umsicht und Feingefühl walten, gibt jedoch seiner Neigung zu nonchalanten Formulierungen bisweilen allzu sehr nach – übertriebene Ehrfurcht kann man ihm, wie bereits an den ersten Sätzen des Buches ersichtlich wurde, wahrlich nicht zum Vorwurf machen. Besonders eindrücklich ist die Schilderung des von schweren Krisen belasteten Verhältnisses von Kracauer und Adorno, das über eine Freundschaft im gewöhnlichen Sinne des Wortes weit hinausging und aller emotionaler Verwerfungen ungeachtet bis zu Kracauers Tod 1966 fortdauerte; hier bewährt Später sich als aufmerksamer und hellsichtiger Beobachter, der zwar, sobald psychologische Komplikationen auf beiden Seiten in Rede stehen, vor kühlen Diagnosen nicht zurückscheut, sich einseitiger Schuldzuweisungen aber ebenso enthält wie indiskreter Spekulationen.

Zusammenfassend ist dem Autor zu attestieren, dass er mit seiner gewissenhaft recherchierten und virtuos komponierten Biographie eine Gesamtschau auf Kracauers Leben und Schaffen in ihrer wechselseitigen Abhängigkeit bietet und das selbstgesteckte Ziel, ein Buch vorzulegen, das eine dem Denken des Protagonisten kongeniale Form besitzt, durch eine kluge Regie bei der Konfigurierung der einzelnen Kapitel und ihnen untergeordneter Textsegmente vollauf er­reicht. Dass er bisweilen womöglich in einen gar zu lakonischen Ton verfällt, schmälert diese bemerkenswerte Leistung nicht.