Die Pyramiden von Gizeh

Für Mark Lehner und Zahi Hawass muss ihnen ihre jüngste Publikation wie der Bericht aus dem eigenen Wohnzimmer vorkommen: Aufgrund ihrer Grabungstätigkeit und der administrativen Aufsicht über das Gizeh-Plateau mit den bekannten Pyramiden und zahlreichen Gräbern, den Siedlungen und sonstigen Anlagen sind beide ohne Frage die besten Kenner dieser Stätte, zu der Tausende von Besuchern jährlich kommen, denn die Faszination des Ortes ist trotz der politischen Krisen Ägyptens ungebrochen.

Es ist eine Art Rückblick beider Verfasser auf Jahrzehnte einer intensiven Untersuchung und Auseinandersetzung mit dem Ort, der nicht nur eines der Sieben Weltwunder beherbergt, sondern für die Kulturgeschichte des sog. Alten Reichs (etwa 2600-2200 v. Chr.) eine wichtige Rolle spielt. In diesem opulent bebilderten und anspruchsvoll designten Überblickswerk zu Gizeh lenken die beiden Ägyptologen daher die Aufmerksamkeit des Lesenden nicht nur auf die beeindruckende Architektur, sondern nehmen ihn mit auf den Weg zu den politischen, religiösen, kulturellen und technischen Entwicklungen jener Zeit. Diese Sachkompetenz der beiden Autoren spiegelt der vorliegende Band Die Pyramiden von Gizeh auf seinen 560 eng beschriebenen Seiten nachhaltig wider. 20 Kapitel gliedern den Band, die thematisch weit gefasst sind und über Gizeh als Bestattungs- und Verwaltungsort des Alten Reichs hinaus auch dessen Rezeption und gegenwärtige Attraktivität etwa bei „Pyramidiologen“ einbeziehen. Dass einzelne Abschnitte, die mehr im Fokus der Forschung beider Wissenschaftler gestanden haben bzw. stehen, im Band prominenter und umfangreicher ausgeführt erscheinen als andere, mag man als eine der Schwächen des Bandes sehen. Dies belegt bereits ein oberflächlicher Blick in die Bibliografie, in der zwar zwei Spalten Einträge mit Werken von Zahi Hawass zu finden sind, von den Giza-Bänden Hermann Junkers aber lediglich drei von zwölf Bänden Eingang gefunden haben, obgleich die Autoren ihm auf Seite 105 bescheinigen, „gewissermaßen eine Kulturgeschichte des Alten Reichs“ verfasst zu haben. Weitere bibliografische Lücken lassen sich leicht abgleichen, ruft man – die im Band nicht aufgeführte – Internetseite Giza Digital Library unter http://www.gizapyramids.org/static/html/library.jsp auf, auf der – zumindest angestrebt – eine „Complete Giza Publications List“ zu finden ist; in jedem Falle sind dort mehr und maßgeblichere Beiträge (als pdf) zu finden als im vorliegenden Band. Diese Seite ist eine große Arbeitserleichterung bei der Literaturbeschaffung oder Recherche und hätte in keinem Falle ignoriert werden dürfen.

Die Inhalte im anzuzeigenden Band basieren in der Hauptsache auf archäologischen Befunden, weniger auf einer Auseinandersetzung mit altägyptischen Textquellen. Die Wissenschaftsgeschichte zu Gizeh (Kapitel 6: „Forscher, Wissenschaftler und Expeditionen“, S. 80-107) greift daher im Wesentlichen die Vermessungen der großen Pyramiden und nachfolgende Grabungen auf. Griechen und Römer machen hierbei zwar den Anfang, aber es wird sehr kursorisch durch die Antike galoppiert, obgleich die überlieferten Quellen (z. B. zu den praefecti Aegypti) weit mehr Material bieten würden. Chronologisch folgend zeichnen der Autoren dann – ohne nähere Erläuterungen - die mythische Verklärung des Ortes durch die Kopten und Araber nach. Einen Schnitt in ihrer Betrachtung machen Lehner und Hawass mit dem 12. Jahrhundert, in dem es zum ersten groß angelegten Steinraub kam. Europäische Forscher, zuvorderst John Greaves, hatten dann im 17. Jahrhundert die vorhandenen Berichte zu den Pyramiden studiert, um nach ausführlichen Vermessungen weitergehende Fragestellungen zu den Bauten und ihrem Aufstellungsort zu entwickeln. So schlagen beide Verfasser über die napoleonische Expedition, Belzoni und das englische Militär den Bogen zu den bis heute durchgeführten Grabungen. Eine Tabelle zu den in der Moderne durchgeführten archäologischen Missionen wäre der Übersichtlichkeit wegen hilfreich gewesen (so etwa in Mark Lehners Buch The Complete Pyramids: Solving the Ancient Mysteries (The Complete Series), S. 61). Besonders also die antike Rezeption Gizehs erscheint Rezensent zu knapp bemessen; in diesem Kapitel werden beispielsweise restaurative Maßnahmen unterschlagen, die dann in Kapitel 10 („Der große Sphinx“, S. 214-241) jedoch Erwähnung finden (S. 229: Phase III). Nicht nur hier ist der Band kapitelübergreifend nicht konzis genug: Grundlegende Darstellungen greifen nicht in nachfolgende Einzeldarstellungen und einige wichtige Voraussetzungen zum Verständnis weitergehender Ausführungen werden teilweise nicht gelegt.

Alle nachfolgenden Kapitel folgen im Kern einem gleich strukturierten Aufbau: Der angesprochene Themenkomplex wird auf Grundlage ausgesuchter, bereits erschienener Literatur vorgestellt und Einzelpunkte resümiert. Diese Ergebnisse werden dann mit Thesen bzw. Standpunkten Lehners und Hawass‘ kommentiert und gegebenenfalls ausgebaut. Dies verdeutlicht den nach wie vor hohen Diskussionsbedarf, der selbst im Kontext so intensiv untersuchter Stätten wie Gizeh nach wie vor nötig ist.

Ein beinahe eigenes Buch im Buch stellt Kapitel 15 dar („Leben in Gizeh: Arbeitersiedlungen und Pyramidenstädte“, S. 354-401). Nicht nur wegen seiner Länge, sondern vor allem wegen der inhaltlichen Tiefe ist dieser Abschnitt besonders hervorzuheben. Detailliert wird auf Forschungsgeschichte, Funktion und Entwicklung der Arbeitsorganisationen und Herbergen eingegangen. Durch zahlreiche Rekonstruktionszeichnungen werden die archäologischen Befunde veranschaulicht und Objekte kontextualisiert. Pläne verdeutlichen Lage und Ausmaß der Anlagen, Umzeichnungen aus Gräbern geben einen Eindruck von den Funktionen der Einrichtungen. Einige der Grundrisse und isometrischen Zeichnungen in diesem und anderen Kapiteln sind in vorliegender Form bereits in Lehners Band The Complete Pyramids (vgl. oben) verwendet worden; einen Bildnachweis zu den Zeichnern Philip Winton oder Tracy Wellman (z. B. S. 143b, 191, 207a, 216, 244) sucht man im Abbildungsverzeichnis dieses Bandes allerdings vergeblich.

Dank der exquisiten Abbildungen (vor allem von Mark Lehner) und der breit gefächert angelegten inhaltlichen Schwerpunktsetzungen fällt das Fazit zu dem Band insgesamt überwiegend positiv aus. Das mag aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es Die Pyramiden von Gizeh insgesamt an Ausgewogenheit fehlt. So stellt sich u. a. bei der Durchsicht des Bandes die Frage, ob es ein eigenes Kapitel 18 „Verlassenes Gizeh“, um die Aufgabe des Friedhofs am Ende des Alten Reichs bis zur erneuten Belegung zu Beginn des Neuen Reichs auf fünf Seiten (S. 462-467 inkl. ganzseitiger Bilder) zu skizzieren, wirklich braucht. Erfreulich hingegen sind die Darstellungen zur Geologie des Plateaus (Kapitel 3, S. 34-45 u. Kapitel 17, S. 420-461), die ansonsten bislang mühevoll zusammenzusuchen waren. Dies sind nur zwei Beispiele, die das Wechselspiel zwischen Licht und Schatten in der Publikation Lehners und Hawass’ repräsentieren sollen.