Oskar Kokoschka (1886-1980) hat in zahlreichen Werken für die europäische Moderne antike Wurzeln postuliert. Es war keine allgemeine Antikenfaszination, die sein Schaffen bestimmte, sondern – wie der Katalog in mehreren Beiträgen gut darstellt und sowohl mit Bildern als auch Fotografien dokumentiert – eine tiefgehende Erarbeitung, zu der wesentlich seine Bekanntschaft mit dem Ehepaar Furtwängler beigetragen hat.
Antike – und hierbei in erster Linie das alte Griechentum – hat bei Kokoschka immer eine politische Dimension, da in ihrer Geschichte und in ihren Denkmälern immer auch die Utopie von Freiheit, neben der der Schönheit, mitschwingt. Dies mag ein Grund sein, weshalb er den Klassizismus mit seinen Antikenbezügen ablehnt: Denn die Schönheit ist hier in festen Formen gefangen, die sie ihrer Freiheit berauben. Der Klassizismus atmet daher nicht den Geist der Antike, sondern ergreift nur seine Formensprache.
Kokoschka hat auf vielen Reisen antike Kunstwerke vor Ort besehen und malen können. In der ihm eigenen Bildgewalt hat er den antiken Zeugnissen eine Lebendigkeit zurückgegeben, die im Titel des Bandes ihren Ausdruck gefunden hat: „Antike“ als „europäische Vision der Moderne“. Archäologische und kunsthistorische Beiträge in dem anzuzeigenden Katalog gehen auf eine Ausstellung der Stiftung Moritzburg zurück, die 2010 verschiedene Leihgeber gewinnen konnte, einen Teil der Werke Kokoschkas mit Antikenbezug an sie auszuleihen. Im Zentrum steht das Triptychon „Die Thermopylen“, 1954 auf Anregung des Altphilologen Bruno Snell (1896-1986) entstanden. Stephan Lehmann beschreibt es kurz, seinem Beitrag sind ferner einige Skizzenblätter beigegeben (S. 58-68). Kokoschkas Selbstbericht (S. 69-70) und die Schilderung des Schlachtgeschehens, von Andreas Gutsfeld und Christian Mileta einprägsam verschriftlicht (S. 72-79), geben die nötigen Hintergrundinformationen zu Thematik und Schaffensintention; und Pascal Weitmann schafft den Anschluss an die Gegenwartskunst (S. 47-56).
Allgemeiner stellt Heinz Spielmann Kokoschkas Verständnis der Antike dar (S. 13-26), als „Verständnis des Lebens aus einer Freiheit, die zur Tragödie werden und zum Tod führen kann.“ (S. 13) Kokoschkas Intentionen seiner Bilder verlagern sich von einer Verarbeitung gemachter Erlebnisse seiner frühen Schaffensphase (vgl. S. 90) hin zu einer aufklärerischen Motivation, für die antike Motive als Blaupausen dienen. Stephan Lehmann ergründet in seinem Beitrag (S. 29-43), wie der Maler den Missbrauch der Antike durch die Gewaltherrschaft des Nationalsozialismus , der er als „entartet“ selbst ausgesetzt war, für sich überwinden konnte. Einen Grund erkennt Lehmann in der zentralen Bedeutung Griechenlands für die Entstehung Europas, die Kokoschka mit Historikern und Archäologen teilte. Dies unterstreicht auch das abgedruckte Interview mit Wolfgang Fischer (S. 88-90) und sein eigener Aufsatz (S. 114-115).
Die persönliche Dimension beschreiben Andreas Furtwängler (S. 133-135), dessen Eltern eine intensive, „von gegenseitiger Wertschätzung getragene“ Beziehung (S. 133) zum Ehepaar Kokoschka pflegten, und seine Frau Dorothea; Régine Bonnefoit beleuchtet abschließend die vielfältigen Verflechtungen von Archäologen mit dem Maler (S. 143-154).
Dieser facettenreiche Katalog besticht nicht nur durch die Auswahl der Bildthemen und seine ansprechende Aufmachung, sondern vor allem durch die Vielzahl an Hintergrundinformationen, die in den verschiedenen Beiträgen enthalten sind. Nicht nur die rezeptionsgeschichtliche Dimension, sondern auch die menschliche Verbindung, die Kokoschka stets wichtig war, haben ausreichend Berücksichtigung gefunden. Die Frage, was der Mensch eigentlich ist, sieht Kokoschka bei den alten Griechen zum ersten Mal gestellt, und diese Frage werde wie ein Staffelstab von Generation zu Generation weitergegeben. Das im Altertum Geschaffene sei Ausdruck dieses Geistes, der nach Freiheit des Individuums fragt. Diese Intention des Malers hat der Katalog vorbildhaft eingefangen und für den Leser kurzweilig wie faszinierend aufbereitet.