Das unschuldige Auge
Orientbilder in der frühen Fotografie. Katalog zur Ausstellung Göttingen, Kunstsammlung der Universität, 23. April-17. September 2017

Bis zum 17. September 2017 war im Gebäude des Alten Auditoriums der Universität in Göttingen eine Ausstellung früher Fotografien mit Themenschwerpunkt „Orient“ zu sehen. Unter dem Titel „Das unschuldige Auge“ ist der Nachlass einer Orientreise aus dem Jahre 1888 präsentiert worden, der in drei Kassetten in den 1990er Jahren aus Kassel nach Göttingen gelangte (vgl. S. 6). Durch das Kunstgeschichtliche Seminar der Georg-August-Universität initiiert ist hierzu ein Katalog herausgegeben worden, für den Professor Dr. Manfred Luchterhandt, Lisa Marie Roemer und Verena Suchy verantwortlich zeichnen.

Nach einem Vorwort, in dem die Hintergründe und beteiligten Personen der Ausstellungs- und Katalogkonzeption und -durchführung vorgestellt werden (S. 6-7), folgen sieben eigenständige Abhandlungen mit thematischen Schwerpunktsetzungen: Manfred Luchterhandt gibt eine konzise Übersicht über die Vertreter der Orientfotografie („Über die Zeugenschaft der Orientfotografie“, S. 8-11), Hildegard Frübis beschreibt anhand der Description de l’Égypte die ersten Unternehmungen, den Orient in Bildern zu fixieren („Von der Description de l’Égypte zur Fotografie: Die Bildwerdung des Orients“, S. 15-22), Babett Forster setzt sich mit der Vermarktung der frühen Orientfotografie im 19. Jahrhundert auseinander („‚Die erste vollständige Aufnahme der Monumente‛: Der frühe fotografische Markt im Spiegel der Alphons-Stübel-Sammlung in Jena“, S. 23-32), Verena Suchy nimmt sich in ihrem Artikel der Imagination des Orients bei Émile Béchard an („Arrangierte Authentizität: Émile Béchard und die ethnografische Fotografie in Kairo“, S. 33-44), Silke Förschler beleuchtet kritisch die Ambivalenz zwischen Verschleierung und Nacktheit im europäischen Bild über die Orientalin („Verhüllt und entblößt: Das Bild der Orientalin im historischen und medialen Wandel“, S. 45-54), die Wechselwirkung von Malerei und Fotografie ist Thema des Beitrags von Antje Habekus („Der ‚Effet de réel‛: Frühe Orientmaler und die Fotografie“, S. 55-62), und mit einem Blick auf die Einbindung der Fotografie in die frühen archäologischen Grabungen im Nahen Osten schließt Judith Krüger („Fotografien in der frühen Archäologie des Nahen Ostens“, S. 63-72) den Überblicksteil ab.

Der nachfolgende Katalogteil ist in fünf Unterpunkte gegliedert: Der erste Abschnitt zeigt eine Auswahl an vor der fotografischen Dokumentation entstandenen Bildwerken zu Stätten im Nahen Osten und zu orientalischen Gebräuchen (S. 75-104), im zweiten Teil sind Aufnahmen der Pioniere der frühen Fotografie wie James Robertson, Francis Frith, Wilhelm Hammerschmidt, Antonio Beato oder Muhammad Sadiq Bey zusammengefasst (S. 105-154), Sektion III hat die Fotografie im Zusammenspiel mit dem stetig steigenden Tourismus in der Mitte des 19. Jahrhunderts zum Thema (S. 155-251), Palästina als Ort verschiedener Religionen steht im Mittelpunkt des vierten Katalogkapitels (S. 253-281) sowie der abschließende fünfte Teil Friedrich Sarre, Ernst Herzfeld und Josef Strzygowski als Orientexperten gewidmet ist. Ferner sind ein umfangreiches Literaturverzeichnis (S. 304-319) und ein ergänzender Bildnachweis und Abkürzungsverzeichnis (S. 320) beigegeben.

Die Qualität der Fotografien (dies gilt im Besonderen für die Farbreproduktionen, aber uneingeschränkt auch für die Wiedergabe der Albumin- und Salzpapierabzüge), die Gestaltung des Katalogs, seine Konzeption sowie die beschreibenden Texte überzeugen vollends. Die herausgegriffenen Themenkomplexe sind tiefgründig recherchiert und die Verknüpfungen zu den Abbildungen – vor allem durch die thematische Gliederung des Katalogteils – vorbildlich hergestellt. Auf eine ausführliche Beschreibung bestimmter Aspekte (z. B. technische Aspekte der Herstellung der Bildabzüge) ist bewusst und sehr gut nachvollziehbar verzichtet worden. Dadurch ist ein kompakter, dichter Katalogband über das europäische Bild des Orients im Spiegel der frühen Fotografie entstanden. Das „unschuldige Auge“, also der scheinbar vom Fotografen unabhängige, ja losgelöst erscheinende Prozess des Fotografierens, wird kritisch in Augenschein genommen und aufgelöst.

Geografisch bildet Ägypten einen besonderen Schwerpunkt innerhalb des Konvoluts, da es – wie in mehreren Beiträgen zu Recht bemüht – die Faszination des Fremden ausstrahlte, zugleich z. B. durch die Bibel aber auch durch andere Bildwerke wie die Description de l’Égypte bekannte Elemente in sich trug; etwa im Gegensatz zu Jerusalem, das als Zentrum der lateinischen und orthodoxen Welt immer im Fokus der Christenheit gestanden hatte, wie Izabela Mihaljevic (S. 235) völlig zutreffend bemerkt.

Die abgedruckten Fotografien anderer Sammlungen (hervorzuheben ist hier die Alphons-Stübel-Sammlung der Friedrich-Schiller-Universität in Jena) komplettieren den im Katalog zugänglich gemachten Göttinger Bestand exzellent.

Ein unverzichtbarer Band zur Entwicklung der frühen Orientfotografie in hervorstechender Bild- und Textqualität.