Das Fotoatelier Biella im mittelfränkischen Gunzenhausen ist eines unter vielen, die Anfang bis Mitte des 20. Jahrhunderts Material für Fotografen besorgten, Aufnahmen entwickelten und Negativplatten wie Rollfilme archivierten. Rund 2500 Aufnahmen sind so auf uns gekommen (vgl. S. 33-34).
Ausgehend von diesem Sammlungsbestand haben neun Autoren Antisemitismus und „nationale Revolution“ im Kernland der braunen Bewegung (S. 7) untersucht. Die Auswahl der Bildmotive, aber auch das Arrangement sowie ein Blick auf die jeweiligen Anlässe, weswegen ein Foto überhaupt geschossen wurde, sind nur einige der Kriterien, die in die Untersuchung eingeflossen sind. Die Wiedergabe der Lichtbilder im Band ist durchgängig ausgezeichnet; Abb. 20 auf S. 93 und Abbildung links auf S. 158 sind bereits vorher auf den Seiten 39 bzw. 72 abgedruckt.
Curt Biella, der 1938 verstarb, sind zahlreiche der hier veröffentlichten Aufnahmen zu verdanken. Neben Einzelpersonenfotografien, die im Studio hergestellt wurden, sind Gruppenfotos zu verschiedenen Gelegenheiten gefertigt einer der Schwerpunkte der Sammlung. Bilder von Gebäuden, entstanden in den 1920er bis 1940er Jahren, bilden ein zweites Archivsegment. Rund die Hälfte aller noch existierenden Aufnahmen aber sind besonderen Ereignissen geschuldet, die zumeist auf Rollfilmen festgehalten wurden; die kleineren, besser tragbaren Kameras, in die die Kleinbildfilme eingespannt wurden, machten es dem Fotografen leichter, schnell und unkompliziert vor Ort zu knipsen. So wurde z. B. der Flug eines Zeppelin-Luftschiffs 1929 festgehalten. Mit dem technischen Fortschritt veränderte sich nicht nur die Geschwindigkeit, mit der Motive festgehalten werden konnten, sondern auch die Perspektiven wurden variabler. Nahaufnahmen von Aufmärschen oder von Umzügen wurden dadurch möglich und geben detailgenaue Szenen wider, die ansonsten wahrscheinlich in einer Weitwinkelperspektive verloren gegangen wären. Die Bilder halten daher nicht nur die politischen Veränderungen der Zeit des Nationalsozialismus fest, sondern dokumentieren ausführlich, wie aufgrund vereinfachter Technik neue Möglichkeiten der fotografischen Perspektive erarbeitet wurden.
Neben die gestellten Atelieraufnahmen treten die ungeschönten Bilder des täglichen Lebens: ein Verkehrsunfall (S. 83), ein Kirchenweihumzug (S. 116), dann aber auch dokumentieren sie Opfer der brutalen Pogrome vom 25. März 1934 (S. 132, S. 133). Besonders im Abschnitt „Zwischenräume: Das Klassenzimmer, der Schulplatz, der Gasthof“ (S. 84-92) analysieren die Verfasserinnen Sandra Starke und Linda Conze überzeugend die Kameraführung und die Settings der gemachten Fotografien, eingebunden in das zeitgeschichtliche Umfeld ihres Entstehens. Laufen einige wenige Beiträge im Buch Gefahr, die Bilder des Archivs mehr als Staffage denn als Quelle zu einer historisch-kritischen Betrachtung der mittelfränkischen Provinz in der Zeit des Nationalsozialismus unter zu bewerten, gehört dieses Kapitel wie auch die Artikel von Felix Axster, „Zwischen fotografischer Erfassung und Selbstinszenierung“ (S. 141-169), von Britta Lange, „Bilder der Anderen – Andere Bilder“ (S. 170-201) und von Karin Wieland, „BIELLA-LAB(OR)“ (S. 203-261) zu den bildkritischen Untersuchungen in diesem Band. Die dadurch erreichte Symbiose von kunst- und zeitgeschichtlichen Beiträgen macht diesen Band so wertvoll und zeigt vorbildhaft, wie Fotosammlungen als eigenständiges Untersuchungsobjekt zur Geschichte des Nationalsozialismus ausgewertet und präsentiert werden können.