Die Rolle von Reliquien ist in der Christenwelt nicht einheitlich definiert: Die katholischen wie orthodoxen Kirchen praktizieren sie als die älteste Form der Heiligenverehrung, hingegen Protestanten, Adventisten und Neuapostoliker – um nur einige zu nennen – sie als „Reliquienkram“ (Luther) abtun oder sogar als Götzendienst in Frage stellen.
Zu den Reliquien zählen Körperteile von Heiligen, eingeschlossen deren Blut, von Heiligen getragene Gewänder oder Objekte, mit denen die religiös Verehrten in Berührung gekommen waren, und Gegenstände, die selbst wiederum in Berührung mit Reliquien gekommen sind.
Nach der Eroberung Jerusalems 1099 und der Plünderung Konstantinopels 1204 trugen Kreuzfahrer bei ihrer Heimkehr nach Frankreich, Deutschland und Italien zahlreiche Reliquien mit sich, die ihren Platz in verschiedenen Kirchen des Abendlandes finden sollten. Gia Toussaint untersucht in anzuzeigendem Band die Auswirkungen der Kreuzzüge auf die Verwendung dieser heiligen Objekten, ihre Präsentation und die weitere Entwicklung in Religion und Kunst. An den Beginn ihrer Untersuchung hat sie folgerichtig einen Abschnitt gesetzt, der den Umgang mit Reliquien beleuchtet („Schaufrömmigkeit“). Daran schließt sich die Betrachtung zur Gestaltung verschiedener Reliquien an: In Byzanz wurden vor allem Knochen mit Metallapplikationen gezeigt, während im Westen mehrere schützende Hüllen die heiligen Gegenstände vor Zerstörungen, aber auch vor den Blicken der Gläubigen schützen.
Im Rahmen ihrer Betrachtung des Ersten Kreuzzuges legt Toussaint das Hauptaugenmerk auf die Kreuzreliquie. Obgleich bei der Eroberung Jerusalems 1099 diese bereits nach Konstantinopel gelangt war – im 4. Jahrhundert hatte Kaiserin Helena die ersten Teile in die oströmische Hauptstadt bringen lassen, 637 folgte dann der Rest – sei kurz nach der Einnahme der heiligen Stadt ein kleiner Teil des Kreuzes an einem geheimen Ort aufgefunden worden. Eine Steigerung im Wert erfuhr die Reliquie durch den Kontakt mit dem Blute Jesu, woraus sich ein weiterer Strang heiliger Objekte entwickelte.
Auch der Präsentation kam eine zunehmend wichtigere Funktion zu. Erlesene Materialien machten den Wert der Reliquien auch für ungebildete Schichten der Bevölkerung deutlich, sodass jeder einzelne heilige Gegenstand eigenständig gesehen wurde und zunehmend an Bedeutung gewann. Eine besondere Form entwickelte sich in den Kreuzfahrerstaaten, die – obwohl lateinischer Herkunft – die byzantinische Doppelkreuzform adaptierten. Hiervon ausgehend skizziert Verfasserin die Entwicklung des Gemmenkreuzes. Die Betrachtungen zu den Kreuzreliquien beendet Toussaint mit einer Auswertung der Triptychen. An einigen Stellen mag sich ein versierter Leser eine kritischere Auseinandersetzung mit den aktuellen Diskussionen in der Forschung wünschen, aber im vorliegenden Format des Buches hätte eine derartige Kontroverse mehr als Fremdkörper denn als Bereicherung gewirkt. So bleibt die Argumentation der Autorin stringent und gut nachvollziehbar.
Der zweite Abschnitt ihres Buches beschreibt die Umbettungen heiliger Gebeine. Reliquien der Heiligen haben die Funktion, mit den Seelen der im Himmel Weilenden verbunden und somit Jesus und Gott nahe zu sein. Im Osten bereits früher als im lateinischen Kirchentum praktiziert, entwickelten sich hier andere Traditionen und Formen, die mit der Plünderung Konstantinopels durch die Kreuzfahrer 1204 und letztlich mit dem Fall der Stadt an die Türken nach Westen ausstreuten. Zum Abschluss ihrer Arbeit stellt die Verfasserin ausgewählte Reliquien vor, teilweise – dies sehr erfreulich – in Farbabbildungen.
Gia Toussaint hat für ihre vorliegende Publikation sorgsam recherchiert und relevante Quellen und Objekte zusammengetragen. Ihr ist eine übersichtliche Darstellung des aktuellen Forschungsstandes geglückt, die in eine gute Gliederung eingepasst einen raschen und ausreichenden Überblick über Reliquienverehrung und Präsentationspraxis bietet, diese bewertet und kultur- sowie kunstwissenschaftlich einordnet.