Aufmerksamkeit
Wahrnehmung und moderne Kultur

Sehen und gesehen werden

Im Jahr 1996 erschien im Verlag der Kunst (Amsterdam/Dresden) ein schmales Buch des an der Columbia University lehrenden Kunsthistorikers Jonathan Crary, das den unspektakulären Titel Techniken des Betrachters trägt. Bereits heute kann diese Studie als Klassiker der Medien- und Wahrnehmungstheorie gelten, der weit über die engen Grenzen der Disziplin Kunstgeschichte hinaus Wirkung gezeigt und Reaktionen hervorgerufen hat. Die in diesem ersten Buch vorgelegten Thesen sind zwar für das Verständnis der zweiten, hier anzuzeigenden Studie nicht unbedingt notwendig, doch bilden sie in vielerlei Hinsicht das historische Rückgrat der vorgenommenen Argumentation und erleichtern den Zugang zur Untersuchung über die Wahrnehmung der Moderne.

Die These die Crary in Techniken des Betrachters formuliert, lautet kurz gefaßt, daß es in verschiedenen Epochen je spezifische dominante Modelle des Sehens, genauer: des Betrachtens gegeben hat, die aber nicht über eine langsam fortschreitende (Fort)Entwicklung miteinander verbunden sind, sondern in einem historischen System der Diskontinuität voneinander getrennt sind. Auf den epistemisch-epistemologischen Spuren Michel Foucaults wandernd, untersucht Crary dafür zunächst das dominante Seh-Modell des klassischen Zeitalters, das sogenannte Camera-obscura-Modell, welches zu Beginn des 19. Jahrhunderts von einem Modell des subjektiven Sehens, wie es sich besonders in der entstehenden Psycho-Physiologie ausgebildet hat, abgelöst wird. Zudem untersucht er die historische und systemische Position von optischen Medien, die er als „epistemische Gefüge“ begreift und so in einen kulturellen Zusammenhang einbinden kann. Im Anschluß an Deleuze/Guattari versteht er unter Medien Instrumente, anhand derer und über die Aussagen getroffen werden, wobei diese doppelten Aussagenrelationen historisch, präziser: epistemisch unterschiedlich eingebunden sind. Um diesen abstrakten Verhalt deutlich zu machen, sei er an einem Beispiel vorgestellt, der auch in dem nun vorliegenden Buch von Bedeutung ist. Im 18. Jahrhundert wurde die Art und Weise in der die Menschen sehen, im und am Modell der Camera obscura beschrieben; d.h. einem Modell, in dem die Außenwelt über eine objektive, transparente Repräsentation dem Menschen mitgeteilt wird, wobei die Übertragung der Reize vom Außen der Welt zum Innen des Subjekts als vollkommen störungsfrei gedacht wird. Im 19. Jahrhundert wird jedoch das bis dahin unproblematische Subjekt zum Ausgangspunkt eines neuen Betrachtungs-Paradigmas, das gerade von den Störungen, Beeinflussungen, ja Dysfunktionen des Subjekts seinen Ausgang nimmt. Eben dieses Sehmodell findet sich in den unterschiedlichsten Disziplinen im Stereoskop versinnbildlicht, das ein subjektives, raumergreifendes Betrachten vorstellt. Eine Entwicklung von der Camera obscura zum Stereoskop kann jedoch nicht behauptet werden, da gerade die neuen Erfahrungen des Sehens dadurch produziert werden, daß die Wirkungsmechanismen der ersteren gegen ihren eigentlichen Gebrauch verändert werden, um neue Sehmomente herzustellen, wie Crary etwa an Goethes Gebrauch der Camera obscura in der Farbenlehre deutlich nachweist.

Das neue Buch von Jonathan Crary – Aufmerksamkeit: Wahrnehmung und moderne Kultur – baut auf der Begründung von je spezifisch gefaßten historischen Wahrnehmungsmustern auf, fokussiert jedoch einen kurzen Zeitraum von gerade 25 Jahren, um verschiedene Formen der ästhetisch-kulturellen Wahrnehmungskonfiguration herauszuarbeiten. Dabei ist zunächst anzumerken, daß der in der deutschen Übersetzung gewählte Titel wohl die aktuellen akademisch Marktbedingungen reflektiert, innerhalb derer eine „Aufmerksamkeits-Welle“ schwappt, dabei jedoch den im englischen Originaltitel deutlich sichtbaren Fokus bzw. Leitgedanken der Arbeit klar verfehlt. Mit Suspension of Perception. Attention, Spectacle and Modern Culture rekurriert Crary, wie er im Buch ausführt, auf eine Doppelung, die im Begriff „suspension“ bereits vorgegeben ist, nämlich diejenige, daß die Wahrnehmung sowohl eine Versunkenheit, eine Absorption in ein Bild bzw. einen Zustand des Betrachtens herbeiführen, als auch eine Absenz bzw. einen Aufschub eben dieser Wahrnehmung bewirken kann. Diese in zwei Richtungen gehende Ausfaltung der Perzeption bestimmt nach Crary auch die Aufmerksamkeit selbst: Zum einen wird sie in den Theorien und Praktiken der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als erhöhte Konzentration, ja, als eine fast Schwindel produzierende und dabei synthetisierende Versunkenheit verstanden und zum anderen als ein willkürliches Abschotten nach Außen, ein bewußt verfahrendes Selektionssystem des Menschen gefaßt. Hinzu kommt, daß der Begriff des „Spektakels“ auf Guy Debords klassisch gewordene und neuerdings eine Renaissance erlebende Studie Die Gesellschaft des Spektakels gründet, in der Debord die durch den Wahrnehmungskonsum hervorgerufene Individualisierung des Menschen beschreibt, innerhalb derer der Mensch zu einem Objekt kapitalistischer und medialer Geflechte wird. Doch diese im Originaltitel bereits erhaltenen Informationen bleiben dem deutschen Leser zunächst vorenthalten, so daß er nur im Nachvollzug des Textes die bereits im eigentlichen Titel gegebenen Konfigurationen nachholen kann.

Den Ausgangspunkt der Studie von Jonathan Crary bildet zum einen die Annahme, daß der mit dem Namen Walter Benjamin verbundene Befund der Wahrnehmungsüberreizung und der damit verbundenen Zerstreuung des Menschen in der Moderne nur eine Seite der Kultur um 1900 darstellt, während die andere Seite gerade in der doppelt aufgefächerten Gegenbewegung von Aufmerksamkeit und Suspension von Wahrnehmung zu finden ist. Von dieser Annahme ausgehend breitet Crary zunächst das Feld aus, auf dem die Aufmerksamkeit ab der Mitte des 19. Jahrhunderts eine besondere, alles bis dato bekannte übertreffende Konjunktur erlebt: von den Assoziationstheoretiker über die verschiedenen psychologischen Theorien und Praxen bis hin zum Begründer der Psychoanalyse Siegmund Freud. Zum anderen kann man Crarys Studie als einen bewußt kritischen Reflex auf die disziplinäre Verengung der Kunstgeschichte lesen, die im Zuge des Aufkommen der „visual studies“ eingetreten ist. Innerhalb dieser Forschungen wird die Wahrnehmung des Menschen (ausschließlich) auf das Sehen begrenzt, und somit entkörperlicht. Crarys Anspruch hingegen lautet – wohlgemerkt als Kunsthistoriker – die Wahrnehmung des Menschen in seiner gesamten körperlichen Extension zu berücksichtigen, auch wenn natürlich durch den vorgegebenen Fokus auf ausgewählte Gemälde eine logische Präferenz auf das Sehen vorhanden ist. Diesem Anspruch gemäß bleibt er nicht bei der historisch-systematischen Übersicht über die Konzeption und Position von Aufmerksamkeit, Wahrnehmung und Subjektwerdung stehen, sondern nimmt die so gewonnenen Erkenntnisse als Grundlage für seine eigentlichen Lektüren: den Bildlektüren von Manets Wintergarten, Seurats Parade de Cirque und Cézannes Kiefern und Felsen, die für ihn je spezifische Konfigurationen der genannten Konstellation vorstellen.

Das Buch ist in eine Einleitung und vier themenzentrierte Kapitel eingeteilt, in denen zunächst eine ausführliche Skizze der kulturellen Aufmerksamkeitsaggregationen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts geliefert wird (Kap. 1, „Die Moderne und das Problem der Aufmerksamkeit“), bevor anhand dreier extensiver, kulturelle und wissenschaftliche Kontexte produktiv sich einverleibende Bildlektüren je historisch spezifische Problemzustände von Synthetisierung und Dissoziierung der Wahrnehmungen erläutert werden (Kap. 2, „1879: Die Befreiung des Sehens“ [zu Manet]; Kap. 3, „1888: Illuminationen der Entzauberung“ [zu Seurat]; Kap. 4, „1900: Die Neuerfindung der Synthese“ [zu Cézanne]). Abgeschlossen wird das Buch durch den „Epilog 1907: Verzaubert in Rom“, in dem anhand einer von Freud brieflich gegebenen Beschreibung der abendlichen Situation auf der Piazza Colonna die mit der Psychoanalyse neu erbrachte Syntheseleistung bei der Bewältigung von Wahrnehmungsleistungen und Aufmerksamkeitsregulierungen pointiert durch ihren Hauptvertreter vorgestellt wird.

Die einzelnen Kapitel intensiv vorzustellen, den Argumentationsgang präzise zu beschreiben hieße jedoch ein eigenes Referat dazu abzugeben, so daß hier nur am Beispiel eines Kapitels das von Crary angewandte Verfahren mitsamt den so erzielten Leistungen vorgestellt werden soll. Das längste Kapitel des Buches behandelt Seurats Gemälde Parade de Cirque, das zu den letzten Werken des französischen Malers gehört. Diese Bild wird, wie die meisten Werke Seurats, von der Kunstgeschichtsschreibung bislang als didaktische Vorleistung angesehen, die auf den späten Cézanne hinweist, ohne jedoch eine besondere eigene Wertigkeit zu besitzen. Diese Wertigkeit versucht Crary jedoch in seiner Analyse nicht nur zu behaupten, sondern in spezifischen Formen der Assoziierung und Kontrastierung erst zu begründen. Die Grundlage dazu bildet zunächst einmal die exakte Beschreibung des ikonographischen und szenographischen Programms des Bildes. Dafür nutzt er die im Gemälde sichtbaren Affinitäten und Bruchstellen zu tradierten perspektivischen Formen der Bildrepräsentation, wie z. B. zu da Vincis Abendmahl, ebenso wie solche zu zeitgenössischen Theorien und Konzeptionen des Sehens und der Wahrnehmung. So wird beispielsweise sichtbar, wie die im Bild vorgestellte Formation nur bedingt inhaltliche Vorgaben – ein bestimmter Zirkus etc. – erfüllt und statt dessen eine spezifische Form der Wahrnehmung selbst vorstellt. Desweiteren wird die Plastizität einzelner Figuren des Gemäldes mit zeitgenössischen Modellen menschlicher Figurationen in öffentlichen Hypnosevorstellungen verbunden, um die körperliche Formierung deutlich zu machen. Darüber hinaus verbindet er die kulturell formierte, auf Gemeinschaftsbildung angelegte Wahrnehmungskonzentration, die zeitgleich zu Seurat in der Architektur des Bayreuther Opernhauses von Richard Wagner konzipiert wird, mit der Blickführung auf dem Bild selbst um die Eigenheit der dort gegebenen Aufmerksamkeit herauszustellen. Ein weiterer zentraler Punkt in der Argumentation ist die bereits in den Wagnerschen Operninszenierungen sichtbare mediale Spektakularisierung der Vorstellung, in der zeitgenössische phantasmagorische Medien bewußt eingesetzt werden, die eine spezifische Wahrnehmung prägt, in die Seurat mit seiner Malerei reaktiv eingebunden ist. Gerade die abschließende Analyse von Seurats Gemälde Cirque als Übernahme praxinoskospischer Wahrnehmungstechniken muß hier besonders hervorgehoben werden.

Wenn man von hier aus eine Zusammenfassung des Buches von Jonathan Crary versucht, so läßt sich zunächst festhalten, daß er mit Aufmerksamkeit sicherlich einen der interessantesten und anregendsten Beiträge zur Erforschung der modernen Kultur liefert. Das Buch ist leserfreundlich geschrieben, bietet durch seine essayistische Durchführung stete Möglichkeiten der (Wieder)Erkennung und weiß dabei zwischen Haupt- und Nebenargumentation zu trennen. Wohl lassen sich leicht kleinere Mängel benennen: etwa die latente Unterschätzung der Systemstelle der „Aufmerksamkeit“ im Zeitalter der Aufklärung oder die Nichtberücksichtigung Robertsons bei der Herleitung der Phantasmagorie. Doch solche Nachlässigkeiten können den Ertrag der Studie nicht schmälern, die sich selbst als Diskussionsangebot versteht. Eben dieses Angebot durch kleinliche Kritik schmälern zu wollen hieße den Status und die Schreibintention zu verkennen. Ein letztes sei noch hervorgehoben: in Zeiten, in denen die sich etablierende Kulturwissenschaft häufig ihre eigenen Gegenstandsbereichs und damit auch ihre sinnvollen Grenzen zu verkennen droht, zeigen die Bildanalysen von Crary, wie fruchtbar solch eine kulturwissenschaftliche Lektüre sein kann, da er nicht nur immer wieder zu seinem Gegenstand, den Bildern, zurückkehrt und sie in einem vergrößerten Kontext situiert, sondern das in der Kontextualisierung gewonnene Wissen zur Schärfung des Blickes auf die Bilder und zur gründlicheren Analyse eben dieser nutzt. Gerade das Konzept eines reaktiven Zugangs von Malern zu Wahrnehmungskonfigurationen schärft das Bewußtsein von ästhetischer Produktion und Eigenwertigkeit, die erst in der kulturellen Einbettung geleistet werden kann. – Jonathan Crary bietet mit seinem Buch Aufmerksamkeit dem Leser einen der spannendsten und ertragreichsten Zugänge zur (klassischen) Moderne, und leistet zugleich mit seinem Vorgehen einen eminent wichtigen Beitrag zur Begründung einer neuen, aktuellen Kulturwissenschaft (nach dem Ende der ersten um 1900).