Bonstettiana
Historisch kritische Ausgabe der Schriften Karl Viktor von Bonstettens

Betrachtet man in einer Bibliothek die nun langsam anwachsende Edition der Schriften Karl Viktor von Bonstettens, die sogenannten 'Bonstettiana', so könnte man den Eindruck gewinnen, daß es sich bei dem Autor um eine Doppelgestalt handelt, die allerdings sehr unausgewogen im Regal steht. Während der Briefschreiber Bonstetten mit sechs Bänden in 10 Teilbänden eindeutig den Ton angibt, nimmt sich der Schriftsteller Bonstetten mit zwei Bänden in 3 Teilbänden eher dürftig daneben aus. Augenfällig ist dies umso mehr, als die Briefe in dickleibigen lila Bänden die Schriften in schmalen dunkelroten klar in den Hintergrund drängen. Man kann dieses Bibliotheksbeispiel aber auch inhaltlich fortführen und fragen, wem bzw. wozu eine Neuedition der Schriften Karl Viktor von Bonstettens dienen mag?

Um eine erste Antwort gleich zu geben: der Schriftsteller Bonstetten ist keineswegs ein Theoretiker, Literat oder Anthropologe ersten Ranges, der in der philosophischen champions league zwischen Descartes und Kant oder Hegel bzw. Rousseau und Goethe seinen Platz hätte. Doch ist diese Ebene so hoch, daß auch manch anderer noch problemlos darunter seinen Platz findet, der jedes Interesse wert ist, ohne gleich ein Gipfelstürmer zu sein. Und bei jenen findet auch Bonstetten seinen Platz, wobei natürlich nicht jeder Text gleichermaßen die Aufmerksamkeit auf sich zieht.

Insgesamt läßt sich eine Zweiteilung innerhalb der Schriften ausmachen, die den Interessen wie der Ausbildung ihres Verfassers geschuldet sind. So bildet einerseits die Nationalökonomie, deren Kenntnis bei einem Mitglied des Berner Patriziats wie Rats naturgemäß ist, und andererseits die Psycho-Physiologie, die ihm sein früherer Mentor, der berühmte Forscher Charles Bonnet nähergebracht hatte, jeweils einen markanten Block innerhalb der Schriften. Doch stehen beide keineswegs vollkommen getrennt nebeneinander, sondern werden auf vielfältige Weise zueinander in Beziehung gesetzt und in manchen Texten auch regelrecht miteinander verwoben. Als Bindeglieder fungieren anthropologische, man könnte auch sagen ethnologische Neugier, die z. B. in den 'Hirtenlandbriefen' zum Ausdruck kommen, und besonders die, heute würde man sagen bildungspolitischen Interessen, die vor allem in den 'Neuen Schriften' maßgeblich den Ton bestimmen.

Die beiden bisher erschienenen Bände, die 'Schriften' und die 'Neuen Schriften' umfassen die Werke Bonstettens aus den Jahren 1762-1797 bzw. 1798-1802 und folgen weitgehend der ursprünglichen Ordnung der Publikationen. Dabei sind die 'Schriften' zunächst thematisch geordnet, und dann innerhalb der jeweiligen Rubrik chronologisch. Die erste Abteilung umfaßt die Texte zur Landeskunde, der Staatswirtschaft und der Politik, die zweite diejenigen zur Nationalbildung, die dritte solche zur Schweizergeschichte, die vierte vertrauliche Akten für Johann Müller, den Intimus Bonstettens, die fünfte die Metaphysik und die sechste die Idyllen. Die gegebenen Überschriften der Abteilungen könnten allerdings leicht den Eindruck erwecken, daß es sich bei ihrem Verfasser um einen typischen Schweizer des 18. Jahrhunderts handelt, der nur wenig über seine Berge hinaus schauen kann, ohne gleich Heimweh zu bekommen. Doch trügt dies: unter der Rubrik mit dem unglücklich gewählten Titel Metaphysik finden sich all jene Texte versammelt, in denen Bonstetten die psycho-physiologischen Überlegungen Bonnets fortzuführen und ' auch literarisch - auszureizen versucht. In der Landeskunde stehen die 'Briefe über ein schweizerisches Hirtenland', das literarisches, ethnologisches, ökonomisches und politisches Dokument in eins ist, und dessen Stellenwert wohl auch dadurch benannt werden kann, daß es erstmals in C. M. Wielands 'Neuem Teutschem Merkur' erschien.

Die 'Neuen Schriften' Bonstettens enthalten in zwei Teilbänden in einem Band die titelgleich in Kopenhagen erschienenen Werke. Geschrieben wurden sie nach Bonstettens unfreiwilliger Übersiedelung nach Dänemark in Folge der französischen Besatzung der Schweiz. Diese Tatsache macht aus ihnen, nach Meinung der Herausgeber, Exilliteratur, doch mag auch dieses Etikett eher verwirren als den Texten wirklich gerecht werden. Versammelt werden in den 'Neuen Schriften' einerseits Texte, die sich der neuen Umgebung widmen, dabei jedoch gleich eine mindestens doppelte Perspektive, die des vor Ort Anwesenden und des kosmopolitischen Schweizers, aufweisen und dabei stets Formen der Vermittlung, des Transfers und des bewußten Vergleichs mit anderen Traditionen, nationalen Formen etc. sucht. Der erste Teilband dabei ist ungleich heterogener, enthält er doch Texte zur Volkserziehung, Reisebeschreibungen und über die Gartenkunst in den nördlichen Ländern, als auch eine lange Abhandlung über Island als Wiege der nordischen Sprachen und Sagas, sowie eine Abteilung Idyllen und eine zur Metaphysik, die Schriften zum Konzept der Aufklärung enthalten. Letztere sind dadurch beachtenswert, als sie eine Revision Rousseauscher Gedanken, besonders des 'Contrat Social » darstellen, die der junge Bonstetten selbst leidenschaftlich verfolgte, darstellt und zugleich versucht eine Vermittlung von französischen und deutschen Aufklärungsphilosophien zu leisten. Der zweite Teilband umfaßt dann die Abhandlung 'Über Nationalbildung', die wiederum in I, 'Die physischen Wissenschaften' und II, 'Von der moralischen Bildung der Nation' unterteilt ist.
An einem kurzen Text sei abschließend kurz gezeigt, warum bzw. in wie fern Bonstetten noch oder gerade heute unser Interesse verdient. In seiner Abhandlung 'Über die Gartenkunst, besonders in Rücksicht auf die nördlichen' Länder unternimmt Bonstetten den Versuch, von Plinius Beschreibung seiner Gärten in dessen 'Naturgeschichte' ausgehend, eine Konzeption der idealen Gärten vorzulegen. Der Plural ist hierbei von Bedeutung, da er von seinen Beobachtungen geleitet davon ausgeht, daß es eine allgemein ideale Gartenkonzeption gar nicht geben kann, sondern die jeweils regionalen wie nationalen Unterschiede, seien es Klima oder Botanik, aber auch die jeweilige Nutzungsform mit bedacht werden müßten. Zudem verficht er das Wiederaufleben des antiken ökonomischen Ideals, das otium und negotium, also private und öffentliche Aufgaben des Patriziers, zusammenführt und sinnbildlich im Garten ausstellt. Statt überflüssigem Luxus und Tand im Park lieber eine Garten, der zugleich erholsam und nutzbringend für die Gesellschaft ist. Dabei rekurriert er zudem auf literarische Vorbilder, wie dem berühmten Elyssée Julies aus Rousseaus 'Nouvelle Héloise', als auch auf einen ' fast vergessenen und neuerdings wiederentdeckten Bestseller des 18. Jahrhunderts, das 'Spectacle de la Nature' des französischen Physikotheologen Abbé Pluche. So laufen verschiedene Prozesse und Traditionen in einem schmalen Text zusammen, der selbst ein Produkt eines Kulturtransfers darstellt und zugleich eine Reflexion darüber anstellt. Zugleich handelt es sich bei dieser Schrift um einen Vorboten der nachfolgenden großen Texte wie den 'Recherches sur l'imagination' und den 'L'homme du Midi et l'homme du Nord'.

So sind auch die Schriften Bonstettens eine Fundgrube für jeden, der sich mit der Zeit vor, um und nach 1800 beschäftigt und bieten darüber hinaus eine Unzahl von Pretiosen, gerade auch da, wo man sie nicht erwartet. Bleibt nur noch übrig die Herausgeber zu bitten, über die emsige Publikation der beeindruckenden Briefedition, nicht die eigentlichen Schriften Bonstettens zu vergessen.