Meinungsäußerungs- und Informationsfreiheit im Internet aus der Sicht des Völkerrechts

Völkerrecht statt Cyberlaw

Das Internet bietet einzigartige Möglichkeiten, Meinungen und Informationen zu verbreiten bzw. sich zu beschaffen. War die Chance, eine große Personengruppe zu erreichen, früher vom Zugang zu den einschlägigen Print- und Rundfunkmedien abhängig, ermöglicht es die Informationsrevolution im Internet heute, beliebige Informationen schnell und kostengünstig einem nahezu unbeschränkten internationalen Rezipientenkreis zugänglich zu machen. In den Diskussionen um den letzten Irak-Krieg zeigte sich exemplarisch, welche Bedeutung gerade sog. „Blogger“-Seiten für den Informations- und Meinungsaustausch jenseits kommerzieller Informationsportale zukommt. Die dezentrale Struktur des nahezu weltumspannenden Internets macht es den Staaten gleichzeitig ungleich schwerer als bei den überkommenen Medien, die Verbreitung verbotener Inhalte bspw. Kinderpornographie zu kontrollieren. In diesem Spannungsfeld zwischen der erwünschten Meinungs- und Informationsfreiheit einerseits und der als notwendig erkannten Kontrolle verbotener Inhalte andererseits stellt sich aufgrund der internationalen Struktur des Internet die Frage, inwiefern das Völkerrecht hier einschlägige Regeln und Prinzipien zur Verfügung stellt.

Marina Gets untersucht diese Frage im Hauptteil ihrer Jenaer Dissertation, indem sie im Anschluß an eine Einführung in den Begriff der Meinungsäußerungs- und Informations­freiheit sowie die technischen und sozialen Voraussetzungen dieser Freiheiten im Internet den Bestand des positiven Völkerrechts zusammenstellt, an dem Ausübungen der genannten Freiheiten bzw. Eingriffe in dieselben zu messen sind. Einschlägige Artikel des Völkervertragsrechts werden erläutert und z.T. auch ihre Anwendbarkeit auf das Internet überprüft, wobei erfreulicherweise auch weniger bekannte Vertragswerke des regionalen Menschenrechtsschutzes Afrikas und Arabiens Beachtung finden. Einer Herleitung der Meinungs- und Informationsfreiheit aus dem Völkergewohnheitsrecht sowie den Allgemeinen Rechtsgrundsätzen steht Gets kritisch gegenüber. Dem ist vor allem im Hinblick auf die Allgemeinen Rechtsgrundsätze uneingeschränkt zuzustimmen, deren wesensnotwendige Abstraktheit sie für die erforderliche Feinabstimmung zwischen Freiheitsgewährleistung einerseits und Schranken andererseits als ungeeignet erscheinen lassen.

Grundrechtssystematisch korrekt werden im Anschluß an die Freiheitsgewährleistungen die Schranken der Freiheiten herausgearbeitet. Positiv ist, daß Gets nicht wieder Vorschrift für Vorschrift nebeneinanderstellt, sondern diese Frage analytisch aus der Perspektive einzelner Schranken wie des Schutzes von Gesundheit und Moral oder des Schutzes der öffentlichen Sicherheit und Ordnung untersucht. Der folgende Abschnitt gilt dem internationalen Rechtsrahmen des free flow of information in bezug auf das Internet. Wichtig ist, daß hier auch Fragen der Kryptographie Beachtung finden, die zunehmend als effektives Mittel zur faktischen Gewährleistung der Kommunikationsfreiheiten im Internet gegenüber staatlichen, aber auch privaten Eingriffen genutzt wird.

Im letzten Hauptabschnitt über die internationale Regulierung des Internet werden der Schutz vor unerwünschten Inhalten im Internet als zentrales Problem identifiziert und verschiedene Lösungsansätze – einschließlich von Bestrebungen internationaler Organisationen wie der ITU oder des Europarates – dargestellt. Als mögliche Wege der Rechtsentwicklung werden die Realisierungschancen einer „Konvention zur Inhaltsbeschränkung im Internet“ (warum keine „Konvention zur Gewährleistung der Meinungs- und Informationsfreiheit im Internet“?), einer internationalen Harmonisierung nationaler Regelungen sowie einer Regelung im Rahmen eines autonomen Cyberlaw diskutiert. Den Ansatz, Regulierungen der Meinungs- und Informationsfreiheit einem autonomen Cyberlaw zu überlassen, verwirft Gets zu Recht als unrealistisch, haben doch bspw. Meinungsäußerungen im Internet auch in der realen Welt ganz konkrete (z.B. beleidigende) Auswirkungen.

Insgesamt handelt es sich um eine gut lesbare Arbeit, die allerdings über weite Strecken recht abstrakt wirkt. So hätten die Ausführungen zu den Gefährdungen der Informations- und Meinungsfreiheit gewonnen, wären sie durch mehr konkrete Beispiele aus der Praxis des Internet illustriert worden. Einschlägige Internetseiten bieten fast täglich Informationen über Versuche, die Informationsverbreitung im Internet einzuschränken. In den wenigen praktischen Beispielen manifestiert sich zugleich, daß in der gesamten Abhandlung fast nur gedruckte Quellen herangezogen werden. So überrascht es doch ein wenig, daß eine Untersuchung über die Meinungs- und Informationsfreiheit im Internet letztlich nur in geringem Umfang Meinungen und Informationen aus dem Internet berücksichtigt. Schade ist auch, daß Gets zwar Inhalte völkerrechtlicher Normen und Stellungnahmen aus der Literatur zu umstrittenen Fragen solide referiert, eigene Stellungnahmen zur Relevanz für den Meinungs- und Informationsaustausch im Internet aber oftmals vermeidet. Hier hätte man sich ein wenig mehr Mut zu eigenen Schlüssen gewünscht.

Die Dissertation leistet aber dennoch einen willkommenen Beitrag zur Erschließung der völkerrechtlichen Grundlagen der Meinungs- und Informationsfreiheit im Internet. Dabei hat die Verfasserin erfreulicherweise auch noch kurz vor der Drucklegung verabschiedete Rechtsinstrumente berücksichtigt wie die noch nicht in Kraft getretene Cybercrime Convention des Europarates vom 23. November 2001. Der internationale Charakter des Internet bringt es mit sich, daß Aspekte der Meinungs- und Informationsfreiheit in diesem Medium nicht mehr allein nach nationalem Recht beurteilt werden können. Jedem, der sich näher mit den einschlägigen völkerrechtlichen Regeln beschäftigen will, bietet die Arbeit einen probaten Einstieg in die einschlägigen völkerrechtlichen Rechtsgrundlagen.