Kulturphänomen Stricken
Das Handstricken im sozialgeschichtlichen Kontext

Verzwickte gestrickte Geschichte

Stricken ist wieder gesellschaftsfähig und gefragt. Nach Jahren der Wahrnehmung als eher spießiges, klischeebeladenes Hobby gilt es heute nahezu als Meditationsübung mit angenehmem Nebeneffekt, an dem sich sogar Hollywoodstars begeistern. Fast jeder kennt es und hat sich, falls weiblich, zumindest mehr oder weniger freiwillig darin versucht, aber mit den kulturellen und historischen Hintergründen dieser Handwerkstechnik wurde sich selten auseinandergesetzt. War Stricken immer nur ein netter Zeitvertreib, eine Nebentätigkeit? Und strickten zu allen Zeiten ausschließlich Frauen?

Beide Einschätzungen werden im Verlauf des Buches Kulturphänomen Stricken revidiert. Dort geht die Freiburger Volkskundlerin Sylvia Greiner zunächst auf die geschichtlichen Wurzeln des Handstrickens (im Gegensatz zu dem in diesem Buch eher marginal behandelten Maschinenstricken) ein, um sich dann mit den vielfältigen sozialen und wirtschaftlichen Bedeutungen des Strickens durch die letzten Jahrhunderte zu beschäftigen. Ausgangspunkte waren bei der Untersuchung der Autorin Fragen nach der Identität der Strickenden, des Beweggrundes und der Gelegenheiten für diese Tätigkeit sowie der Produkte dieser Handarbeit.

Am Anfang wird das Stricken im ländlichen Raum betrachtet, wonach sich die Autorin dem städtischen Bereich zuwendet; diese Reihenfolge spiegelt auch die chronologische Verlagerung des Strickens vom ländlichen zum städtischen Gewerbe wider. In Bezug auf das Stricken in der Stadt bieten sich für Greiner vielfältige Betrachtungsfelder: Da ist das Stricken in den Zünften, die Rolle des Strickens in der bürgerlich geprägten Mädchenerziehung und bei den Damen höherer gesellschaftlicher Kreise sowie der Stellenwert des Strickens im Bereich des Proletariats. Dabei betont die Autorin schon im Vorwort, daß die Beschäftigung mit dem Stricken im Bürgertum angesichts der besseren Quellenlage einen breiteren Raum annehmen wird. Zum Schluß behandelt Greiner die Rolle des Strickens in Kriegszeiten. Dies alles wird aufgelockert mit zahlreichen Zitaten von Strickenden und Stimmen aus ihrer Umgebung sowie vielen zeitgenössischen Abbildungen. Als Quellen dienten der Autorin dabei Lebenserinnerungen einzelner Strickerinnen und Stricker, Daten aus Archiven und die vor allem im 18. und 19. Jahrhundert verbreiteten sogenannten Anstandsbücher. Außerdem griff sie auf Kinderbücher, Familienromane, Zeitschriften und Abbildungen zurück. Der von ihr untersuchte Zeitraum wurde auf die Zeit zwischen dem ausgehenden 16. Jahrhundert und der Mitte des 20. Jahrhunderts festgelegt, wobei der Schwerpunkt aufgrund der Quellenlage auf dem 18. und 19. Jahrhundert liegt. Regional beschränkt sich Greiner bei ihrer Untersuchung nicht auf ein einziges Land, sondern hielt es für sinnvoller, des Aussagewertes wegen ihr Arbeitsgebiet auf Deutschland, die Schweiz, Österreich, England und Frankreich auszudehnen – Stricken ist ihrer Meinung nach nie ein nationales Phänomen gewesen.

Das Buch überzeugt vor allem durch seine lebendigen und vielseitigen Schilderungen der Kultur rund um das Phänomen Stricken. Es ist übersichtlich aufgebaut und wirkt durch zahlreiche Unterkapitel äußerst dynamisch. Auch die grafische Gestaltung und das Layout sollten hier als ansprechend hervorgehoben werden. Sylvia Greiner ist es gelungen, den sicher manchmal etwas spröden Gegenstand ihrer Magisterarbeit in ein interessantes und zeitgemäßes Buch zu verwandeln. Als positiv kann auch die ausführliche und kritische Betrachtung der Quellen am Ende des Buches bezeichnet werden, denn dies gibt einen guten Einblick in die Auseinandersetzung mit einem volkskundlichen Thema (z.B. mündliche Lebenserinnerungen als Quellen).