Frühe Menschenbilder
Frühe Menschenbilder. Die prähistorischen Felsmalereien des Latmos-Gebirges (Westtürkei). Mit einem Vorwort von Harald Hauptmann und einem Beitrag von Christoph Gerber

Die ersten Familienbilder der Welt

In den letzten Jahren ist die Türkei als Wiege der Kulturen gegenüber der Levante und Mesopotamien erneut in den Blickpunkt der Forschung gerückt. Man denke nur an den aufsehenerregenden Fundort Göbekli Tepe bei Urfa in der Südosttürkei (Obermesopotamien), dessen monumentale Gebäude aufgrund der durch Reliefs geschmückten Innenpfeiler und der Skulpturen eine rituelle Deutung nahelegen. Datiert wird dieser Fund zwar in das Frühneolithikum (ca. 9000 v.Chr.); allerdings bilden noch nicht, wie man annehmen könnte, Ackerbau und Viehzucht die Grundlage des Lebens, sondern die Jagd auf Wildtierherden. Erste Siedlungen von Ackerbauern sind in diesem Gebiet schon aus der Mitte des 9. Jahrtausends v.Chr. bekannt. Auch in Zentralanatolien und dem südwestanatolischen Seendistrikt ist die Siedlungsentwicklung im Frühneolithikum dank zahlreicher Ausgrabungen transparent; als bekannte Schlagworte seien hier Aşıklı Höyük oder Çatal Höyük genannt. Demgegenüber bildete die westanatolische Küstenlandschaft lange Zeit ein Desiderat der Forschung. Zwar waren schon mehrere mesolithische Fundplätze der Marmara-Region bekannt, die Rolle des Küstengebietes gerade bei der Ausbreitung der neuen neolithischen Lebensformen und religiösen Inhalte über die Ägäis auf das griechische Festland und in den Balkanraum jedoch unerforscht.

Glücklicherweise füllen die neu entdeckten Felsmalereien rund um den heiligen Berg Latmos im Hinterland des antiken Milet an der türkischen Westküste diese Forschungslücke. Sie erscheinen äußerst homogen und repräsentieren Vorstellungswelten aus dem Neolithikum bzw. Chalkolithikum Anatoliens und schlagen damit eine Brücke zwischen der ägäischen und der inneranatolischen Kulturentwicklung. Sie bilden aber auch für sich eine einzigartige Manifestation der rituellen Gedankenwelt früher seßhafter Völker, in der nicht mehr, wie in den paläolithischen Felsmalereien Westeuropas überwiegend Jagdtiere dargestellt werden, sondern – mehr noch als in allen anderen zeitgleichen Felsbildern in Afrika und Vorderasien – bevorzugt Gruppen von Menschen, von Gemeinschaften.

Die ersten Felsbilder wurden 1994 entdeckt; mittlerweile sind schon 125 Beispiele bekannt. Die Arbeiten an den Fundplätzen sind zwar noch nicht abgeschlossen, aber wegen der Fundmenge und der sich abzeichnenden Bedeutung der Darstellungen entschloß sich die Verfasserin, einige Beispiele in einer Art Ausstellungskatalog vorzustellen. Die Felsbilder vom Latmos-Gebirge sind die ersten bislang bekannten Beispiele prähistorischer Felsmalerei im westlichen Kleinasien und bilden eine eigenständige Gruppe: bislang liegen aus dem Vorderen Orient und dem Mittelmeerraum wie auch aus den übrigen Felsbildregionen der Erde keine Vergleichsstücke vor. Demzufolge handelt es sich um eine eigene Bilderwelt, die nur aus sich selbst zu interpretieren ist, wobei man immer beachten sollte, daß das Latmos-Gebirge keinen abgeschlossenen (Kultur-)Raum bildete und so der Zugang zur Ägäis und zum Landesinnern in beide Richtungen immer gegeben war. Die Götterwelt ist bekannt: Vermutlich wurde der Gipfel des Latmos seit frühesten Zeiten mit göttlichen Mächten in Verbindung gebracht, und seit dem Neolithikum wurde im Gebirge der karisch-anatolische Wettergott verehrt, zusammen mit einem lokalen Berggott; beide tauchen übrigens später auch in der griechischen Mythologie als Zeus und als der Hirte und Jäger Endymion auf.

Die Bilder selbst sind meist in roter Farbe ausgeführt, manchmal erkennt man auch Konturen und Binnenzeichnung der Figuren in weiß. Sie sind vor allem im westlichen und östlichen Vorgelände der Hauptgebirgskette mit der Bergspitze des Latmos als Mittelpunkt verbreitet und erreichen eine Höhe zwischen 190 und 930 Meter. Alle Bilder sind mehr oder weniger dem Tageslicht ausgesetzt; oft erinnern die Darstellungen im Verbund mit ihrer Umgebung an Naturheiligtümer, zumal sich in der Nähe meist Wasser befindet. Die Orte der Malereien sind niemals bewohnt gewesen, sondern wohl nur zu kultischen Zwecken aufgesucht worden. Als Motive kommen in den Felsbildern Menschen, Ornamente, Zeichen und Symbole, Hände und Füße vor; Bilder von Tieren sind indes sehr selten. Meist werden Paare oder Gruppen abgebildet, wobei mehr Frauen als Männer zu finden sind. Bei Frauen ist auch die Variationsbreite in der Darstellung größer, was z.B. bei Körperhaltungen oder der Abbildung der Kleidung wie Rock oder Schurz deutlich wird. Es werden wohl vorrangig Beziehungen zwischen Männern und Frauen dargestellt, ausgedrückt durch körperliche Nähe (z.B. Umarmung) und Striche über den Köpfen; es kommen aber auch Gruppen von gleichgeschlechtlichen Personen vor, und von Müttern und Töchtern.

Die Entdeckerin interpretiert diese Menschenbilder als Darstellung von Fruchtbarkeits-, Frühlings- oder Initiationsriten, wie auch von Hochzeitsfeierlichkeiten. Ihrer Meinung nach wurden besondere Situationen durch Bilder von einzelnen Familien an diesen Orten festgehalten; dafür sprechen auch Handabdrücke von vermutlich am Kult beteiligten Personen in den Felsmalereien. Außerdem wird diese Interpretation durch das Wasser und die Bergspitze als Sitz eines uralten Regen- und Fruchtbarkeitskultes gestützt. Als Illustration dient der Autorin z.B. der Fundort Göpteke. Dort werden Paare und Tänzer, vermutlich im Rahmen einer Heiligen Hochzeit (Hieros Gamos), dargestellt. Göpteke war vermutlich das Hauptheiligtum der Region. Demgegenüber setzt die Verfasserin den Fundort Karadere mit einer ganz anderen Ausstrahlung des Bildes: Abgebildet werden mehrere männliche Gestalten mit T-förmigen Köpfen in einer Reihe. Ihrer Meinung nach könnte es sich hierbei um die Darstellung der latmischen Berggötter handeln, wobei die größte Figur vielleicht den höchsten Gipfel als Sitz des Wettergottes repräsentiert.

Eine direkte Datierung der Feldmalereien ist nicht möglich, aber durch Stil und Thematik sowie durch Parallelen in der Keramikverzierung ist ein Zeitraum einzugrenzen. Die Felsbilder entstanden demnach vom Epipaläolithikum bis zum Chalkolithikum (10.-5. Jt. v.Chr.), wobei der Schwerpunkt im frühen und mittleren Chalkolithikum lag (6. Jt. v.Chr.).

Es fallen zwei Hauptrichtungen der Darstellung auf: ein naturalistischer Stil, der nur in wenigen Beispielen vorliegt, und ein schematischer Stil, dem die Mehrzahl der Malereien zugeordnet werden kann; dabei werden die Köpfe auffallend oft stilisiert (Zickzacklinie, T-Form); innerhalb der Darstellungen gibt es jedoch große Qualitätsunterschiede.

Zum Abschluß der Publikation werden noch drei weitere prähistorische Fundplätze des Latmos zum Vergleich vorgestellt, dann folgt ein knapper Katalog der Felsbilder und der prähistorischen Funde.

Positiv erscheinen an diesem Werk vor allem die einleuchtenden, frischen Interpretationsansätze der Autorin, die sicherlich auch die Forschung in anderen Felsbildregionen inspirieren werden. Da es sich noch um keine endgültige Publikation handelt, ist die Diskussion darüber ausdrücklich erwünscht. Ins Auge fällt ebenfalls sofort die übersichtliche, klare Gliederung des zu besprechenden Werkes. Zu Beginn ist durch kleine Unterkapitel mit den nötigsten Informationen wie z.B. „Verbreitung der Bilder“, „Lage der Felsbilder“, „Erhaltungszustand“ oder „Bildgröße“ eine schnelle Orientierung und Einarbeitung in die Thematik möglich. Viele große Fotografien der Fundlandschaft und deutliche Abbildungen der Fundstellen nebst Umzeichnungen der bildtragenden Felsen und der Malereien erlauben einen guten Eindruck der latmischen Felskunst in ihrer natürlichen Umgebung und machen neugierig auf eine eigene Anschauung dieser frühen Familiengeschichten.