Historische Transformation
Dem Wesen des Christentums ist vor mehr als 100 Jahren der Theologe, Historiker und Wissenschaftspolitiker Adolf (von) Harnack (1851-1930) nachgegangen und hat in einer damals äußerst populären (gleichnamigen) Publikation (sie erreichte 1903 die Auflage 45.-50. Tausend) in einer beinahe „archäologisch“ anmutenden Art und Weise versucht, undogmatisch Dogmenkritik zu betreiben.
Es ist ein Historiker, der den Theologen belehrt, und es ist die historische Hermeneutik, die historisch-theologische Transformationen möglich macht: Die Erklärung einzelner Phänomene in ihrem geschichtlichen Kontext offenbart ihre – so Bultmann – „existentiale Interpretation“. Harnack hält aus seiner Analyse für den Christen vieles Bemerkenswertes bereit: Das Christentum erschließe sich nicht aus der wissenschaftlichen Theologie, sondern über die Begegnung mit der Bibel und ihren Bildern; die Bibel ist nicht eine Lehre über Jesus Christus, verstanden als ein Bestandteil des Buches, sondern eben sein höchstes Gut. Im Zentrum aber steht seine Dogmenkritik wie im Lehrbuch der Dogmengeschichte formuliert, so er fordert, „[man] muß das Dogma durch die Geschichte läutern“; der Vater, bedeutender Theologe seiner Zeit, wirft ihm verächtlich „Geschichtsmacherei“ vor. Und dabei war Harnack keineswegs ein theologischer Aussteiger, mahnte er die institutionalisierten Einrichtungen der Kirchen vor Absperrung und Einschränkung der Christen durch unverrückbare Regeln und Verordnungen. Immer auf der Suche nach Kommunikation war er von seiner Grundthese überzeugt, das Evangelium Jesu wird sich mit und unter ihm behaupten.
Ein Sammelband, entstanden aus einem Symposion auf Schloß Ringberg (Tegernsee) 1998, führt den Facettenreichtum der Person Adolf von Harnacks in 15 Einzelbeiträgen vor. Sie charakterisieren ihn als „Grenzgänger“, der sich nicht auf eine wissenschaftliche Disziplin einengen läßt, sondern unstet mal kirchengeschichtlich, dann bibliothekarisch, wissenschaftsgeschichtlich wie historisch vordenkt. Seine enge Verbindung zu Kaiser Wilhelm II., der bekannt für seine archäologischen wie historischen Vorlieben ist, wie zu Mommsen und Wilamowitz, deren römische und hellenistische Studien er mit seinen Forschungen zur Alten Kirche zu einer Art altertumswissenschaftlichen Großbetrieb ausbaute, sind äußere Kennzeichen seiner zentralen, wissenschaftlichen Stellung Anfang des 20. Jahrhunderts. In der Theologie wird er zunehmend Randfigur, vor allem durch Karl Barth kritisch angegangen, der dem Lehrer den Status eines „Historiker ohne Gleichen“ einräumt, aber durch Harnacks positive Einstellung zum Kriegsbeginn 1914 wie später durch Arbeiten Overbecks sich immer weiter von ihm und dessen Blick entfernt. Besonders die prosopographische Darstellung Adolf von Harnacks als der Außenseiter als Zentralfigur von Bernd Moeller wie auch der wissenschaftsgeschichtliche Abriß Rüdiger vom Bruch Adolf von Harnack und Wilhelm II. als auch der bemerkenswerte Aufsatz von Stefan Rebenich Der alte Meergreis, die Rose von Jericho und ein höchst vortrefflicher Schwiegersohn: Mommsen, Harnack und Wilamowitz tragen zu der laufenden Neubewertung Harnackscher Thesen und Wirkung mit wichtigen, neuen Perspektiven bei (vgl. W. Härle u.a.: Das ist christlich. Nachdenken über das Wesen des Christentums. Gütersloh 2000). Kurt Nowak und Trutz Rendtorff mit ihren Arbeiten Theologie, Philologie und Geschichte. Adolf von Harnack als Kirchenhistoriker sowie Adolf von Harnack und die Theologie. Vermittlung zwischen Religionskultur und Wissenschaftskultur sind zentrale theologische Bemerkungen zu Harnack.
Adolf von Harnack ist ein großer Vordenker bis heute geblieben, unabhängig davon, wie man seine Thesen bewerten will. Theologisch polarisierend hat er die Verbindung zwischen verschiedenen Wissenschaften herzustellen versucht: nicht lediglich als Adaption eines Systems übertragen auf eine andere Disziplin, sondern auf eine präzise Fragestellung hin modifiziert. Sein ständiger Austausch mit Wissenschaftlern anderer Wissensbereich, sein stetiges Engagement, wissenschaftliche Einheiten zu bilden und auf ökonomisch wie gesellschaftlich akzeptierte Grundlagen zu stellen, sind vorbildlich auch für die heutige Zeit.