Wissenschaft zwischen Ost und West
Der Kunsthistoriker Richard Hamann als Grenzgänger. Beiträge einer Tagung in der Universitätsbibliothek Marburg am 13. und 14. Juni 2008

Der Kunsthistoriker Richard Hamann (1879–1961) ist für die Philipps-Universität Marburg einer ihrer bis heute nachwirkenden, herausragenden Wissenschaftler, der von 1913 bis 1949 das Kunstgeschichtliche Seminar der Universität leitete und durch die Gründung des Bildarchivs Foto Marburg erweiterte. 1947 nahm er zudem für zehn Jahre eine Gastprofessur an der Berliner Humboldt-Universität an und wirkte zumindest anfänglich auf die Entwicklung der ostdeutschen Kunstgeschichte ein.

Im Juni 2008 fand in der Marburger Universitätsbibliothek eine Tagung statt, die den renommierten Wissenschaftler als „Grenzgänger“ „zwischen Ost und West“ präsentierte. Anlass war die Erschließung seines Nachlasses, der ebendort aufbewahrt wird und von Ruth Heftrig vorbildlich zur wissenschaftlichen Nutzung aufgearbeitet worden ist. Zahlreiche Schüler und Weggenossen Hamanns haben ihre Referate verschriftlicht, sodass ein mit zehn Beiträgen recht umfangreicher Tagungsband erscheinen konnte. Der Schwerpunkt der Artikel liegt – der Titel des Buches verrät es – auf Hamanns Wirken in der sich herausbildenden Deutschen Demokratischen Republik. „Das Spektrum der Themen reicht von der Nationalpreisverleihung an Richard Hamann über seine in der DDR realisierten Publikationsprojekte, die bekannten Protestaktionen gegen den Abriss einiger im Krieg beschädigter Baudenkmäler, die Umstände und Hintergründe seiner Entlassung und der unter neuen politischen Vorgaben erfolgenden Neubesetzung des Berliner Lehrstuhls bis hin zur Lektüre eines Aufsatzes aus Hamanns letzten Lebensjahren als Testament eines Wissenschaftlers, der mit seinen politischen Vorstellungen zuletzt in Ost und West kein Gehör mehr fand“ (S. 9; einen über den im Band hinausgehenden Überblick zum Wirken des Kunsthistorikers gibt z. B. Peter H. Feist, Richard Hamann. Zum 125. Geburtstag des wirkungsreichen Kunsthistorikers, http://leibnizsozietaet.de/wp-content/uploads/2012/11/13_feist.pdf).

Jost Hermands Analyse von Hamanns Aufsatz Christentum und europäische Kultur (S. 11-20) ist zu Recht an den Anfang aller Artikel gestellt worden. Er war Promovend und Reihenmitherausgeber Hamanns (vgl. Kai Artinger, S. 81-103), und wie sein Beitrag zeigt, bestens mit den Vorstellungswelten seines Doktorvaters vertraut. So gelingt es ihm, quasi einführend, die wichtigsten grundlegenden wissenschaftlichen und philosophischen Positionen des bekannten Kunsthistorikers zu skizzieren, aus denen sich viel für das Verständnis der nachfolgenden Beiträge ableiten lässt. Die Entstehung der europäischen Kultur sah Hamann als eine Überwindung des orientalischen Despotismus, der sich in den Kulturen Ägyptens und des Zweistromlandes entwickelt hatte, abgelöst von dem Wettkampfgedanken der alten Griechen, der wiederum sein Ende im römischen Imperialismus fand. Mit den von Jesus aufgestellten Forderungen der Friedfertigkeit, Nächstenliebe und Selbstentäußerung zugunsten eines größeren Ganzen sah Hamann diese Entwicklung abgeschlossen, die er nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs mit einer weiteren Wendung ins Sozialistische verknüpfte (vgl. S. 16). Dass diese seine Sichtweise im Laufe der Jahre immer weniger mit der tatsächlich praktizierten Politik in der DDR einherging, ist zumeist Thema der weiteren Aufsätze in diesem Band.

Hamanns Positionen zur Gegenwartskunst und ein parteiideologisch angespanntes kulturpolitisches Klima in Ost-Berlin sind nach Einschätzung von Sigrid Hofer (S. 21-37) ein denkbarer Grund für seine vorgezogene Entlassung im Jahr 1957, blickt man vor allem auf sich daran anschließende Wiederbesetzung seiner Stelle, die ferner auch Uwe Hartmann (S. 137-171) und Hubert Faensen (S. 172-189) in den Fokus ihrer Artikel stellen. So bilden diese Beiträge nicht nur das späte Wirken Hamanns ab, sondern werfen ebenso einen Blick auf die frühen Entwicklungen in der Herausbildung eines sozialistisch geprägten Faches Kunstgeschichte in der DDR, und sie gehören deshalb mit zu den wichtigsten in diesem Band.

Hamanns bereits unter der Gewaltherrschaft der Nationalsozialisten erkennbare politische Unbeugsamkeit tritt bei seinem Protest gegen die Sprengung des Berliner Stadtschlosses im Herbst 1950 noch einmal offen zutage, den Thomas Jahn (S. 116-136), durch zahlreiche Bilder der Objektzerstörung erweitert, dokumentiert. Als Träger des Nationalpreises (s. Dorothee Haffner, S. 104-115) hoffte er wohl, aus seiner wissenschaftlichen Autorität politisches Kapital schlagen zu können.

Es sind aber jene offenen Fragen wie oben, auf die der Sammelband kaum Antworten zu geben vermag, sind die Autoren leider allzu oft dem Deskriptiven verhaftet. Alle Artikel zeichnen sich durch eine intensive und ausführliche Recherche aus, es gelingt ihnen aber nur in wenigen Fällen, den Gründen für Hamanns Engagements nachzugehen. Es wird das Bild eines Gelehrten bemüht, der die Kunst(geschichte) gegen die Unbillen der Politik zu verteidigen suchte, und dabei seine eigene Haltung nie aufgab, so z. B. D. Haffner auf S. 109, die die Meinung vertritt, „Hamann ließ sich allerdings durchaus nicht für die Zwecke der DDR vereinnahmen.“ Unklar bleibt so, wie es dem Wissenschaftler in Staatsdiensten gelang, die politischen Umbrüche vom Kaiserreich zur Republik, von der Weimarer Republik in den Terror des Nationalsozialismus und von dort zum Sozialismus der DDR unbeschadet seiner Stellung zu überstehen. Mit einer oppositionellen Haltung gegenüber den jeweiligen Obrigkeiten wird dies nicht zu erklären sein.

Gleichfalls fehlt einer stärker ausgewogenen Betrachtung des „Grenzgängers zwischen Ost und West“ in diesem Band die Perspektive auf Hamanns wissenschaftlichen Werdegang in der Bundesrepublik nach 1949. Hermands Artikel mag man entnehmen, dass es dem Kunsthistoriker darum gegangen sein wird, eine einheitlich deutsche Kunstgeschichte weiter schreiben zu wollen, leider gehen die anderen Autoren in ihren Analysen hierauf nicht weiter ein. Dass man Hamann seitens des DDR-Obrigen gewähren ließ, wird dem Prestigestreben des neuen Staates geschuldet sein, internationales Renommee an seinen Universitäten und den Akademien zu bündeln. Somit war man mehr an dem „Denkmal“ als an dem kritischen Geist interessiert, ganz wie es das Umschlagbild „Hamann im Atelier von Fritz Cremer, Akademie der Künste, Berlin 1954“ (Bildunterschrift S. 55) zeigt: der Wissenschaftler neben der überlebensgroßen Büste seiner selbst.