Kanzleisprachenforschung
Ein internationales Handbuch

Der deutsche Sprachraum im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit kennt keine überregionale Standardsprache wie in der Gegenwart. Doch gibt es neben den zahlreichen deutschen Dialekten so etwas wie Schreibzentren, in denen jeweils ein mehr oder weniger überregionaler Sprachgebrauch gepflegt wird. Die sprachgeschichtliche Bedeutung solcher Kanzleien ist in der germanistischen Sprachgeschichtsforschung als solche seit Langem bekannt, im Einzelnen indessen durchaus umstritten. Angesichts von etwa zwei Jahrzehnten intensiver Forschung auf diesem Gebiet setzt sich das vorliegende Handbuch zwei Ziele: Zum einen sollen „bestehende Probleme und Desiderata der aktuellen Kanzleisprachenforschung“ aufgearbeitet und zum anderen „wissenschaftstheoretische Grundlagen sowie methodische Orientierungen“ geschaffen werden (S. VII). Es wendet sich damit an „Studierende und Lehrende der germanistischen Sprachgeschichtsforschung“ und angrenzender Disziplinen sowie an „interessierte Laien“ (S. X).

So vielfältig das Phänomen der Kanzleisprachen, so facettenreich ist auch das Handbuch, das sich in fünf Abschnitte gliedert: Deren erster befasst sich mit „Kanzleisprachenforschung im Rahmen der deutschen Sprachgeschichte“ (S. 1ff.) und geht dabei in diversen Einzelartikeln auf die Bestimmung, Abgrenzung, Geschichte und Bedeutung von Kanzleisprachen selbst sowie auf deren Erforschung im Kontext von Sozial-, Kultur-, Kirchen- und Rechtsgeschichte ein; darüber hinaus wird ihrer Organisation und ihren Schreibern bzw. Kanzlisten Beachtung geschenkt. Der zweite Abschnitt (S. 149ff.) ist den Besonderheiten von Kanzleisprachen aus genuin linguistischer Sicht gewidmet und arbeitet in mehreren Beiträgen deren Merkmale in Lautung und Schreibung, Formbildung und Satzbau sowie Wortschatz und Text auf; auch das Lateinische als internationaler Lingua franca der Zeit findet dabei Berücksichtigung. Im dritten Abschnitt (S. 325ff.) geht es dann um die Sprachen einzelner Kanzleien im niederdeutschen Raum, als da wären die in Münster, Lübeck, Braunschweig und Riga. In Entsprechung hierzu werden die verschiedenen Kanzleisprachen im hochdeutschen Raum im folgenden, vierten Abschnitt (S. 413) behandelt, die der Wiener Stadtkanzlei und der habsburgischen Kanzleien sowie die Sprachen in Regensburg, Dresden und Köln; die Kanzleisprache am Mittelrhein wird eigens berücksichtigt. Der fünfte und letzte Abschnitt (S. 509) gilt der Sprache von Kanzleien am Rande und außerhalb des (geschlossenen) deutschen Sprachgebiets, in Prag und in Tschechien, der Slowakei, Ungarn, Rumänien, Slowenien und Polen sowie im Baltikum, in Skandinavien und im romanisch-deutschen Grenzgebiet. Ausführliche Sach-, Personen- und Ortsregister runden den Band ab.

Ohne auf einzelne Beiträge gesondert eingehen zu wollen, lässt sich zusammenfassend feststellen, dass der Band seinem Anspruch in vollem Umfang gerecht wird. Dass dabei der wissenschaftlichen Bestandsaufnahme sowie dem Ausweis von Forschungsdesiderata mehr Raum geschenkt wird als der theoretischen und methodischen Grundlegung mag kaum zu verwundern und tut dem meist hervorragenden Gesamteindruck des Werks, das vielmehr durch methodische Pluralität gekennzeichnet ist, keinen Abbruch. Es wird mit Sicherheit seinen festen Platz in der germanistischen Sprachgeschichtsforschung und partiell auch in benachbarten Disziplinen finden.