Die Liste sprachhistorischer Arbeitsbücher bzw. solcher, die Themen des Sprachwandels und der historischen Grammatik ins Zentrum stellen, hat in den letzten beiden Jahrzehnten inzwischen einen nicht unbeträchtlichen Umfang erfahren. Soweit es sich dabei vordergründig um als Lehrbücher konzipierte Darstellungen handelt, steht nicht selten das erkennbare Bemühen im Vordergrund, das erheblich erweiterte und durch neue Forschungsansätze spezifizierte sprachhistorische Wissen den durch die Modularisierung im Rahmen des Bologna-Prozesses veränderten Anforderungen an das Studium gerecht zu werden. Dabei ist zunehmend eine Konzentration auf Kernthemen zu beobachten, die im Rahmen des Bachelor- oder Masterstudiums bei oft minimalem Lehrveranstaltungsumfang zu bewältigen sind. Zugleich wird jedoch – schon durch die Terminologie – ein umfangreiches Wissen vorausgesetzt, das bei den Studierenden einen nicht zu unterschätzenden Kenntnishintergrund erfordert.
Grundsätzlich reiht sich in diese Tendenz auch das vorliegende Arbeitsbuch ein. Dennoch hat das Buch einen anderen Ansatz, nimmt es doch ausdrücklich „seinen Ausgangspunkt von einem Aufgabentypus, der seit einigen Jahren […] im bayerischen Staatsexamen für Deutschlehrer begegnet.“ (Vorwort): Im Speziellen geht es um die historische Erklärung von Phänomenen der Gegenwartssprache. Damit möchte es keine systematische Darstellung chronologisch oder nach linguistischen Ebenen strukturierte Themen sein, sondern greift ausgewählte linguistische Erscheinungen der Sprachgeschichte auf. Nun also ein Arbeitsbuch, das natürlich nicht den Anspruch erhebt, „alle denkbaren Aspekte“ aufzugreifen, sondern sich auf solche Phänomene beschränkt, die „in der Gegenwartssprache erklärungsbedürftig erscheinen, die auf den ersten Blick Störungen des Systems zu sein scheinen“ (ebd.).
Die Perspektive geht also von der Gegenwartssprache aus, die „historisch gewachsen ist und nur durch eine sprachhistorische Betrachtung erklärt werden kann“ (ebd.) Dass ein solches Herangehen zweifellos eine große Potenz birgt, zum einen den Studierenden Zusammenhänge zwischen gegenwartsprachlichen Varianten und historischem Gewordensein erlebbar zu machen und damit zum anderen zugleich das wohl noch zu oft vorhandene „Schubladendenken“ aufzubrechen, werden Lehrkräfte, die dieses Herangehen bereits mehr oder weniger systematisch anwenden, nur bestätigen können.
Insgesamt ist der didaktische Ansatz unverkennbar und konsequent umgesetzt. Das Arbeitsbuch richtet sich an fortgeschrittene Studierende und Examenskandidaten, die mindestens sowohl über Grundkenntnisse der Sprachwissenschaft als auch der deutschen Sprachgeschichte verfügen (vgl. S. 5).
Das Buch umfasst außer der Einleitung 18 thematische Kapitel, die mit einer mehr oder weniger aus dem Leben gegriffenen oder konstruierten Wendung auf die jeweils erklärungsbedürftige linguistische Erscheinung aufmerksam machen und zugleich mit dem Untertitel das linguistische Phänomen spezifizieren, vgl z.B. „Aal fraß Draht – Vokalquantität“ (Kapitel 2). Ein auf wenige einschlägige Titel konzentriertes Literaturverzeichnis sowie ein Glossar schließen den Band ab. Die einzelnen Kapitel gehen also jeweils von der Beobachtung eines gegenwartssprachlichen Phänomens aus – in der Regel als Varianten dargestellt –, stellen dann das zugrunde liegende sprachhistorische Phänomen und dessen Erklärung dar und schließen jeweils mit Examensaufgaben und Lösungsvorschlägen.
Die ausgewählten linguistischen Phänomene sind durchweg relevant und als Ausgangspunkt sprachhistorischer Erläuterungen gut geeignet. Sie beziehen sich auf Varianten bei den Phonem-Graphem-Beziehungen (Kap. 2–4), Besonderheiten bei Umlaut- und ablautenden Formen (Kap. 6, 9), morphologischen Besonderheiten der Verben (Kap. 7–11), morphologischen Besonderheiten bei Substantiven, Adjektiven und Nominalgruppe (Kap. 12–16), die pronominale Anrede (Kap. 17) sowie Fremdheitsmerkmale bei Entlehnungen (Kap. 18) und Lehnwortbildung (Kap. 19).
Am Beispiel von Kap. 2 „Aal fraß Draht“ wird das methodische Vorgehen sichtbar. Aus einem längeren, aktuellen Text aus dem Internet werden Wörter mit langen und kurzen Vokalen und deren unterschiedliche Realisierung gezeigt (= „Beobachtung“, Kap. 2.1.). Kap. 2.2. verweist dann auf die mit der lateinischen Herkunft unseres Alphabets verbundenen Schwierigkeiten der Wiedergabe von Längen und Kürzen sowie die Varianten der Längenkennzeichnung in der Gegenwartssprache. Im Folgenden werden dann sowohl sprachhistorische Begründungen als auch orthografische Prinzipien zur Erklärung herangezogen. Bei der sprachhistorischen Erklärung wiederum folgt nun zunächst die Beschreibung der Herkunft der Längenkennzeichnung (Kap. 2.3.) mittels -e, -h, Vokalverdopplung bzw. Einfachschreibung und erst im weiteren Verlauf (Kap. 2.4.) die Erklärung der Entstehung von Vokallänge (Erhalt alter Längen, Monophthongierung, Dehnung, lexikalisches Prinzip (Homophonendifferenzierung). Kap. 2.5. geht dann auf die orthographische Kennzeichnung von Vokalkürze (Silbenendrand, Silbengelenk) ein, um wiederum anschließend (Kap. 2.6.) die Entstehung von Doppelkonsonanz zu erklären. Mit den Examensaufgaben und Lösungsvorschlägen (Kap. 2.7.) schließt dieses Kapitel ab.
Die den Kapiteln vorangestellten Wortbeispiele und Phrasen greifen interessante Phänomene auf und machen neugierig; bei der Struktur und Anordnung der Kapitel (die ja doch eine gewisse Systematik hätte erwarten lassen) ergeben sich jedoch Fragen der internen Differenzierung. Das zeigt sich z.B. bei der Darstellung zu den Verben: Kap. 7 widmet sich den starken, schwachen und gemischten Verben, Kap. 8 den grammatischen Besonderheiten der Modalverben, Kap. 9 greift nochmals die Vokalvariation beim Verb, speziell den Ablaut, e/i-Wechsel und (nochmals) Umlaut und Rückumlaut auf. Konsonantische Veränderungen beim Verb (Grammatischer Wechsel, Primärberührungseffekt, Geminaten) erhalten ebenfalls ein eigenes Kapitel (Kapitel 10).
Nicht erläutert wird demgegenüber die offensichtliche teilweise synonyme Verwendung von unregelmäßiger/schwacher/gemischter Konjugation (Kap.7, S. 76), was insofern nicht konsequent ist, da zuvor die schwachen Verben behandelt wurden und mit Kap. 8 die grammatischen Besonderheiten der Modalverben aufgegriffen werden. Dass hier auch aktuelle Entwicklungen dargestellt werden, wie sie sich z.B. am veränderten Gebrauch des Verbs brauchen zeigen, gehört zu den besonders interessanten Aspekten des Buches.
Intern bleibt z.B. zu hinterfragen, warum sein ein eigenes Kapitel gewidmet wird, die Suppletivformen gehen und stehen aber mit der Kontraktionsform haben und der besonderen Bildung von werden zusammengefasst werden.
Dass sowohl historisches als auch synchrones Sprachwissen zur Erklärung der Phänomene herangezogen wird, ist durchaus hilfreich, lassen sich doch zahlreiche Varianten, die angeführt werden, gerade nicht nur aus Sprachwandelphänomenen erklären, vgl. z.B. Varianten wie Leib/Laib, Seite/Saite (Kap. 3.3., 3.4. u.a.).
Dass sich bei den Aufgaben und Lösungen einige Phänomene mehrfach wiederholen (vgl. z.B. Umlaut, Dehnungs-h) ist bis zu einem gewissen Grade auch verständnisfördernd und in einem konsequent als Lehrbuch konzipierten Arbeitsbuch verständlich. Dennoch wären gelegentlich auch andere Beispiele zu finden gewesen. Schon eher problematisch ist, wenn gelegentlich Phänomene didaktisch so vereinfacht werden, dass es zu Widersprüchen kommt: So wird S. 29 darauf verwiesen, dass sowohl für den Primär- als auch für den Sekundärumlaut die Schreibung mit <ä> und nur für alt ererbtes /ë/ die Schreibung <e> beibehalten wird. Auf S. 32 wird dann allerdings in Aufgabe 4 gerade die Schreibung von Eltern erwartet, was nach der Lektüre des vorangegangenen Kapitels zu Unsicherheiten führen dürfte.
Generell werden sehr umfangreiche Kenntnisse terminologischer und inhaltlicher Art vorausgesetzt. Auch wenn ausdrücklich darauf verwiesen wird, dass es sich um ein Arbeitsbuch vorrangig für StaatsexamenskandidatInnen handelt, würden verstärkte Querverweise zwischen den Kapiteln hilfreich sein, gerade weil sie verschiedentlich Themen (z.B. den Umlaut, starke Verben, Abschwächung Nebensilben) unter verschiedenen Aspekten aufgreifen. Demgegenüber könnten Wiederholungen in den Musteraufgaben reduziert und durch andere Beispiele ersetzt werden, um unnötige (wenn auch didaktisch begründbare) Redundanz zu vermeiden.
Die in einzelnen Kapiteln aufgenommenen Unterkapitel zur Entwicklung zur Gegenwartssprache bzw. zu Normfragen greifen z.T. nochmals Entwicklungstendenzen auf, wobei z.B. Kap. 8.7., S. 93: „Brauchen auf dem Weg vom Vollverb zum Modalverb“ explizit den Wandel erläutert. Demgegenüber führt z.B. Kap. 12.7. „Normfragen“ kaum über das bereits zuvor Erläuterte hinaus.
Insgesamt, und dies sei ungeachtet der angeführten kritischen Beobachtungen ausdrücklich hervorgehoben, stellt das Arbeitsbuch eine echte Bereicherung im Rahmen sprachhistorischer Abhandlungen dar. Es sollte nicht nur Lehramtsstudierenden empfohlen werden, sondern kann auch bereits im Lehramt tätigen Lehrkräften ebenso wie generell an Sprachfragen Interessierten empfohlen werden, die hier über die bereits vorhandenen Ratgeber hinaus wertvolle Hinweise auf das Gewordensein und einige Entwicklungen im aktuellen Sprachgebrauch erhalten.