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Die dreizehnte Stunde - WLA-Online - Wissenschaftlicher Literaturanzeiger
Die dreizehnte Stunde

Zurück in die Vergangenheit. Mit zwölf literarischen Miniaturen versetzen zwölf Autoren, darunter Charlotte Lyne, Bernhard Walter Kempff, Eva Rudschies, Franz Stefan Becker, Guido Dieckmann, Tanja Kinkel und Kari Köster-Lösche in jeweils eigenständig gestalteten historischen Betrachtungen den Leser in die klassische Antike, das Zeitalter des Hellenismus, das Mittelalter und in die Neuzeit, nach Griechenland, Ägypten, das Zweistromland, Mexiko und Europa. Farbenpracht und Lebendigkeit wie auch Tristesse und Tod durchziehen die historischen Kurzgeschichten. Sie berichten von schillernden, berühmten Gestalten der Weltgeschichte wie auch von den Vergessenen in der Zeit. Als Beispiele seien folgende näher vorgestellt:

Michael Pfrommer hat sich einen Erzieher als fiktiven Erzähler für den Tod der Kleopatra und das Ende des Ptolemäergeschlechts in Ägypten gewählt. Seine Geschichte beschreibt den kurzen Augenblick des Dahinscheidens der Pharaonin, erweitert mit (sehr) viel historischem Hintergrundwissen, welches die antiken Autoren dem modernen Leser hinterlassen haben. Die zumeist zusammenhanglosen und fragmentierten Episoden in den Überlieferungen versucht Pfrommer zu einem großen Ganzen zu spinnen, aber die antiken Texte sind widerspenstig und lassen sich nur schwer verformen. So gerät das Vorhaben, eine Kurzgeschichte über die letzten Minuten im Leben der Kleopatra zu schreiben zu einer losen Aneinanderreihung historischer Berichte. Rezensent hat die Theatralik vermisst wie sie etwa Stefan Zweig beim Niedergang Konstantinopels aufbaut, wo eine offen stehende, unbedeutende Nebenpforte den Untergang der gesamten Christenheit im Osten besiegelt hat. Pfrommer löst sich ' im Bemühen um eine möglichst große Authentizität ' zu wenig von den textlichen Vorgaben der antiken Schriftsteller und wiederholt damit die Erzählung der Ereignisse, wie sie Octavian als Sieger über Kleopatra und ihr Ägypten propagieren ließ. Phantasie hätte neue Zusammenhänge konstruieren lassen, dem Leser eine überraschende Wendung mitgegeben, so bleibt die Miniatur über die letzte ägyptische Herrscherin ein rein narrativ-beschreibendes Konstrukt, ohne ein erzählerisches Ziel erreichen zu wollen. Sicher ist Kleopatra eine faszinierende Frau als Königin wie als Person gewesen, doch zum angekündigten Schauspiel des 'Wendepunkts der Zeiten' taugt sie nicht; ihr Tod ist eine persönliche Tragödie ' den Weltenlauf hätte sich wohl nur geändert, hätte sie gegen Octavian gewonnen.
Heinrichs IV. Gang nach Canossa wird von Frederik Berger aus der Sicht der Mathilde von Tuszien beschrieben, und zugleich wird ein vielschichtiges Bild des deutschen Mittelalters gezeichnet, mit seinen politischen und theologischen Verflechtungen, wechselnden Kräfteverhältnissen und dem Streit über die Oberhoheit der Welt zwischen Kaiser und Papst. Mathilde war eine der Stützen des Papstes Gregor VII. im Kampf gegen das Kaisertum, und es gelang ihr, ihren Cousin Heinrich IV. bei seinem zweiten Italienfeldzug auch militärisch arg zu bedrängen. Im hohen Alter nun greifen ihre Gedanken immer wieder in die Zeit der Konfrontation zwischen Papst und Kaiser aus, und Berger beschreibt in einem sehr persönlichen Verhältnis zwischen Heinrich und Mathilde die Ränkespiele des ausgehenden 11. Jahrhunderts äußerst anschaulich. Heinrichs sprichwörtlich gewordener Bußgang ist ein einmaliges Exemplum im Streit zwischen Kaisertum und Kirche, zwischen Welt und Himmel oder dem Weltlichen und dem Göttlichen. Wenn auch in der Neuzeit die Brisanz an Schärfe verloren hat, so ist das wohlgestaltete Maß zwischen weltlichem Leben und göttlicher Bestimmung heute noch von hoher Aktualität.

Der berühmteste Räuber und Bandit des 18. Jahrhunderts wird von Eric Walz vorgestellt, genauer, wie er ' Cagliostro ' seine letzten vier Tage im Kerker verlebt haben könnte. Dort trifft er auf den Teufel, mit dem er einen Disput über die Lüge führt, der ihn mit der Verlogenheit, den Schein, der Armut seines Jahrhunderts gleichsetzt. Der Dieb und Betrüger wird zum Sinnbild des sterbenden Zeitalters stilisiert. Und tatsächlich ist Cagliostro bis heute der Prototyp des Verbrechers, so wie Casanova der des Liebhabers ist. Literarisch ist er für Arsène Lupin und Joseph Balsamo Ideengeber oder Initiator, und Goethe wie Schiller hatten sich schon zu seinen Lebzeiten einer Bearbeitung seines Lebens angenommen. Die Dimension des Bösen als Charakteristikum einer Epoche ist immer wieder ein aktuelles Thema ' nicht nur in der Literatur. Cagliostro in eine Zeitenbeschreibung aufzunehmen, ist nicht eine Verbeugung vor dem Bösen, sondern seine andauernde Präsenz anzumahnen. Der Leser soll die Augen offen halten nach einem Cagliostro, 'es sind ihrer viele.' (S. 108)

Das Scheitern des Philosophen hat Iris Kammerer in Platons zweiten Aufenthalt in Syrakus gesucht und gefunden. Der Übervater der antiken Geisteswissenschaft hat in seinem Werk über den Staat einen übermenschlichen Regenten geschaffen, den die Welt nicht gesehen hat und vermutlich auch nie sehen wird. Die Umsetzung seiner Idee verspricht sich Platon von Dionysios, dem sizilianischen Tyrannen. Von seinem eigenen Experiment gefangen genommen, muss der Philosoph um sein Leben fürchten, aber auch um seine Idee. Kammerer versteht es glänzend, die Dialogstruktur der platonischen Erörterungen in ihre Kurzgeschichte einzubauen und eine Idee von Platons Philosophie mitzugeben.

Träumerei und Fluch verbindet Gisbert Haefs in seiner Erzählung über Ambrose Bierce, einem der Pioniere des modernen Horrorromans. Geschickt baut er das späte Schicksal Bierces, dessen Spur sich 1914 in den Wirren der mexikanischen Revolution verliert, in ein Gespinst aus Verwechslungen und Täuschungen, die mit dem Tod seiner Erzählfigur einen würdigen, literarischen Rahmen erhält, die ebenso gut der Feder von Poe oder Lovecraft hätte entspringen können. Das Horrorelement als Reaktion auf Krieg und Untergang, einer Verunsicherung in der Welt, hat Haefs bemerkenswert gut getroffen und diesem Genre in dieser Erzählung eine Stellung in der Weltgeschichte eingeräumt.

Die 'zwölf Sternstunden der Geschichte' sind ein vergnügliches, in einigen Episoden auch weit darüber hinausgehendes Lesebuch geworden, das nicht nur im erläuternden Titel der vierten Umschlagseite eine Reminiszenz an Stefan Zweig und seine 'Sternstunden der Menschheit' sein will, sondern ihm vergleichbar historische Brennpunkte zusammengestellt hat. Nicht immer sind es Brüche der Epochen, wie es im Werbetext des Buches zu lesen ist ' dem bedarf es auch gar nicht. Es sind die Außergewöhnlichkeiten, die Ungereimtheiten in der Historie, die aufhorchen lassen. Und die haben alle Autoren gefunden, jeder für sich in einer anderen Zeit an einem anderen Ort, mit dem Ergebnis: das Buch ist ungemein lesenswert.