Osteuropa - Schlachtfeld der Erinnerungen

Kulturelles Gedächtnis und historische Erinnerung prägen den Zusammenhalt von Gruppen wie von Staaten. Diejenigen, die die jeweilige Erinnerung und das kollektive Gedächtnis einer Nation formen, schreiben nationale Geschichte. Geschichtsschreibung und Erinnerungspolitik in den postkommunistischen osteuropäischen Staaten sind Thema des Sammelbands 'Osteuropa ' Schlachtfeld der Erinnerungen', herausgegeben von Thomas Flierl und Elfriede Müller. In der Einleitung definieren sie die Ausgangsperspektive der Untersuchungen: die Transformation der Gesellschaften und die Rückbesinnung auf nationale Identität und nationales Erbe werden begleitet 'von einer exzessiven Renationalisierung und Ethnisierung der staatlichen Geschichtspolitik.' (7) Dieser Prozess förderte einerseits lange Verdrängtes zutage, andererseits ging und geht er einher mit Umdeutungen und politischer Instrumentalisierung der Historie und manifestiert nationalistische, fremdenfeindliche und antisemitische Tendenzen.

Die Herausgeber betonen, dass ein gemeinsames europäisches Geschichtsbewusstsein nicht möglich sei, solange die umkämpften Erinnerungen in diesen Ländern und die sie konstituierenden Gründungsmythen verdrängt werden. Gleichzeitig stellen diese für die westliche Perspektive eine Herausforderung dar. Der von der OSCE 2009 beschlossene gemeinsame europäische Gedenktag am 23. August, der Tag des Hitler-Stalin-Pakts, für das Gedenken an die Opfer von Nationalsozialismus und Stalinismus weist auf das Problem: Im Erinnerungsdiskurs in den osteuropäischen Ländern zentriert sich auf das Leid der Bevölkerung unter bolschewistischer Herrschaft; die nationalsozialistische Besatzung, und damit auch die Beteiligung von Teilen der Bevölkerung am Holocaust, wird relativiert, wenn nicht ganz ausgeblendet.

Elf Beiträge widmen sich dem Themenkomplex Erinnerungspolitik, vier beleuchten die Entwicklung in Polen, weitere in Ungarn, der Slowakei, Tschechien, Slowenien, Litauen und der Ukraine. Die Autoren nähern sich der Thematik mit unterschiedlichem Fokus auf gesellschaftliche und politische Entwicklungen: es geht um die Errichtung von Museen und Gedenkstätten, die Umdeutung nationaler Symbole, Partei- und Oppositionsgeschichte oder eine Fallstudie zu Debatten und zur Praxis der Studentenbewegung im ehemaligen Jugoslawien. Ein literarischer Beitrag zu den Auswirkungen von Kriegserfahrung und persönlichen Traumata hebt sich konzeptionell heraus.
Die Herausgeber des Bandes beschreiben die Position der Autoren als eine der Exterritorialität, auf der Suche nach den 'Zwischenräumen neuer Vergangenheitsdogmen' (12) und umreißen damit auch die Anforderungen, die die Betrachtung der Prozesse in Osteuropa dem westeuropäischen Beobachter abverlangt. Kaum gelungen ist das im Beitrag zur litauischen Entwicklung, der eine analytische Perspektive vermissen lässt und das aktuell hegemoniale nationale Erinnerungsnarrativ reproduziert. Insgesamt stellen die Texte jedoch einen wichtigen und lesenswerten Beitrag zu einer differenzierteren Wahrnehmung der Entwicklungen in Osteuropa dar, liefern informative Facetten zu den gegenwärtig umkämpften Erinnerungsräumen in Osteuropa und vergegenwärtigen konkret die Herausforderungen für das westeuropäische Geschichtsbewusstsein.