Wenn Frauen sich entblößen ...
Mode als Ausdrucksmittel der Frau der zwanziger Jahre

Aufhorchen lassende Titel sind auch für Fach- und Sachbücher keine Seltenheit mehr. Sie sind verkaufsfördernd und bieten oft interessante Themen. Sollte dennoch ein Leser bei den entblößten Frauen auf einen Nacktbilderband spekulieren, kann dieser mit dem Weiterlesen der Rezension hier gleich abbrechen. Denn ' abgesehen vom Umschlag ' sind im Buch lediglich drei weitere Damen unbekleidet abgedruckt worden. Es geht in Follmanns Untersuchung weniger um das Ausgezogen sein, als vielmehr um das, was Frauen anhaben: um die Mode ' und um das, was Frauen bei der Wahl ihrer Kleidung von sich Preis geben.
Der Inhalt des Buches ist in neun Abschnitte gegliedert, sechs analytische, darüber hinaus Anmerkungen, Literatur und Abbildungsnachweise. Die Einleitung weist auf die Interaktion zwischen Person und Garderobe hin, eben dass eine Kleidung einen Menschen formen kann (wie z. B. durch eine Uniform), sich die Frau auf der anderen Seite bestimmte Blusen oder Röcke gezielt aussucht und sich damit selbst präsentiert. An dieser Stelle im Buch wird untersucht, ob und wie die äußere Erscheinung der Frau in den zwanziger Jahren 'Indiz für die Veränderung einer ganzen Generation von Frauen ist' (S. 7). Gleichzeitig sind Veränderungen einer Gesellschaft auch an ihrer Mode ablesbar, wie Verfasserin ebenda postuliert. Dies macht konsequenterweise auch einen Blick auf Modedesigner, Fotografen und Maler nötig.
Konsequenterweise ist das erste Kapitel daher der Ausgangssituation gewidmet und mit 'Zeitgeschichtliche Strömungen nach dem ersten Weltkrieg und ihre Einflüsse auf die Mode' (S. 9-13) überschrieben. Das Industriezeitalter und seine Modernisierungstendenzen bringen Freiheit- und Angstpotenziale hervor, die gleichfalls in der Rolle der modernen Frau zu finden sind. Verbunden mit einer Sachlichkeit, die durch die zunehmende Gleichberechtigung der Frau und ihre soziale Mobilität entwickelt worden ist - einer Frau, die Anteil an Staat und Arbeit hat ' mischt sich eine Identitätskrise hinzu, da die bürgerliche Lebensform erschüttert ist. Der Verlust von Regeln hat Raum für Experimente gegeben, so können die Hauptthesen des ersten Abschnitts wiedergegebene werden.
Im zweiten Kapitel folgt ein theoretischer Abriss zu den 'Soziologische[n] Theorien zum Phänomen Mode' (S. 15-32), auf denen Teil 3 'Mode als Kennzeichen gesellschaftlicher Veränderungen' (S. 33-70) fußt. Es darf also nicht verwundern, die klare Linie und den Funktionalismus der Architektur und des Designs auch in der Mode jener Zeit wiederzuentdecken (vgl. S. 33). Einher geht dies mit einer erotischen Komponente, die durch das Wechselspiel von Ver- und Enthüllen die neue Rolle der Frau ausdrückt: die Selbstbestimmtheit einerseits (also der Ausbruch aus der geschnürten Hilflosigkeit des Korsetts um 1900) und die Reduzierung auf das Körperliche andererseits (als Missinterpretation durch das männliche Geschlecht, der die entblößte Frau zu disziplinieren versucht).
Androgynität sind Antwort der 'neuen' Frau darauf ' oder modisch gesehen das Kostüm, das als Gegenentwurf zum Anzug der Herren große Beliebtheit erringt. Kurzhaarfrisuren sind praktisch wie emanzipatorisch zu verstehen, Sport treibende Frauen dringen in den zwanziger Jahren in weitere Männerdomänen ein.
Die Gefahren dieser Entwicklungen lagen in ihrer unglaublichen Geschwindigkeit und damit in einer Überforderung vieler Teile der Gesellschaft, diese Veränderungen zu begreifen und zu akzeptieren. Hinzu kam, dass die Frau selbst zum künstlerischen Objekt zu mutieren schien, wie es Fotografie, Film, Literatur oder Malerei produzierten. Modedesigner räumten der Frau, die es denn tragen wollten, Bein- und Bewegungsfreiheit ein, und Modejournale transportierten diese Freiheit in die Gesellschaft. Die Autorin verbindet dies auch mit sexuellen Freiheiten, da Frauen sich nicht länger als Opfer hingeben wollen, sondern in den Mittelpunkt des Geschlechtsleben drängten (S. 55). Später wird Sigrid-Ursula Follmann noch die Frage stellen, inwieweit diese Entwicklung von den Frauen selbst ausging oder das Resultat eines Frauenbildes der von Männern dominierten künstlerischen Produktion war, die damit feminine Freiheit suggerierten.
Die maskuline Frau mit Bubikopf und Kostümanzug wurde von vielen Männern als Konkurrenz empfunden. Dies nicht zu Unrecht, denn durch den Druck auf gesellschaftliche Anerkennung eröffneten sich zahlreichen Frauen neue Betätigungsfelder (vgl. Kapitel 4.4 'Berufsfelder der 'Neuen Frau' nach dem ersten Weltkrieg', S. 88-102). Besonders in akademischen und künstlerischen Bereichen waren neue Freiräume entstanden. Oft war die finanzielle Abhängigkeit von der Familie nicht aufzubrechen, dennoch boten die neuen Arbeitsbereiche Spielraum für neue Ideen und Vorstellungen. Diese Entwicklung ging allerdings langsam vor sich, und sie drang nicht wirklich in die männerdominierte Gesellschaft vor. Anders verhielt es sich bei der schulischen Ausbildung, wo auf eine bildungsbürgerliche Tradition zurückgegriffen werden konnte, die dann auf die gesamte weibliche Bevölkerung übertragen wurde.
Frauen die Bildung zu versagen war nicht das Ziel der männlich beherrschten Gesellschaft der zwanziger Jahre, aber es galt in jedem Falle zu verhindern, die Entscheidungsgewalt zu verlieren, in welchen sozialen und ökonomischen Bereichen Frauen ihre Tätigkeit einbringen dürften. Die hierzu genutzten Mittel waren vielschichtig und umspannten 1. die Wissenschaft: Medizin und Psychologie beorderten die Frau als Mutter zurück an den Herd, 2. die Kirche und 3. zahlreiche Medien: Sie verbreiteten die These, die 'Aufgabe der Mutter sei die edelste aller Berufe' (S. 73); 4. die Familie: In ihr wurden durch Disziplinierung die Integration in die Gesellschaft festgeschrieben, ein Ausbruch daraus (z. B. durch Kinderlosigkeit oder mangelnde Unterstützung des Erfolg suchenden Mannes) wurde als persönliches Versagen oder Untauglichkeit gewertet.
Dies erklärt, weshalb Frauen lange der öffentliche Raum verwehrt wurde (vgl. S. 75), den sie sich langsam erobern mussten: durch Sport, Shopping, den Weg zur Arbeit und zur Ausbildung. Kleidung war in diesem Raum noch nicht vordefiniert, daher fehlte eine Art sozialer Kontrolle, was auf der Straße als 'schicklich' gelten konnte. In diesem Vakuum war es der modernen Frau möglich, entsprechend ihrer gesellschaftlichen Einstellung, Herkunft und Bildung, neues Terrain zu erobern.
Der Abschnitt 'Das Bild der 'Neuen Frau' in der Gesellschaft der zwanziger Jahre' (S. 78-87) bringt die zunehmenden Diskrepanzen der Emanzipation der Frau einerseits und ihrer nach wie vor existierenden Fremdbestimmtheit andererseits hervorragend herausgearbeitet auf den Punkt. das Korsett des 19. Jahrhunderts hieß nun Diät, Körpertechnik oder Chirurgie, um eine 'artifizielle Perfektion' (S. 85) zu kreieren, der keine Frau mehr entsprechen konnte. Realität und Fiktion hatten sich in Parallelwelten aufgebaut, denen eine jeweilige Entsprechung nicht mehr möglich war: Das z. B. in der Mode versprochene Bild von Unabhängigkeit war nur einem kleinen Teil der weiblichen Bevölkerung wirklich möglich, und viele fielen der kommerzialisierten Vorstellung von Freiheit zum Opfer, indem sie diese durch eigene Ausbeutung zu erreichen suchten. 'Tatsächlich hinkt aber die gesellschaftliche Emanzipation der Frauen dem Erscheinungsbild deutlich hinterher' (S. 87).
Die Mode und ihre Journale hatten in Wirklichkeit kaum eine emanzipatorische Wirkung, auch wenn sie sich selbst gerne den Anstrich gaben. Sie bauten vielmehr ein neues Raster auf, in dem Frauen ihren Typ bestimmen dürften, den sie dann nach außen hin tragen konnten. Urheber dieser Typen waren aber nicht die Frauen selbst. Die Kleidung versprach eine angebliche Rollenvielfalt, die aber in der Gesellschaft nicht real war. Modische Frauen waren ein Produkt, und besonders bildungsferne Schichten strebten diesem vermeintlichen Ideal zu (vgl. S. 107). Einfluss auf diese Entwicklung hatten Frauen nicht. Die Bilder der Modejournale verliehen daher der Frau eine Autorität, die die damals noch nicht besaß und auch nicht erlangte.
Die sehr anregende Darstellung ist sehr gut leserlich verfasst und grafisch ausgewogen gestaltet. Die Bebilderung verdeutlicht die Thesen im Text, ihre technische Qualität ist fast immer ausgezeichnet ' der gute Druck unterstreicht dies. Der Band baut sich klar gegliedert auf und rekurriert in seinen Schlussfolgerungen stets auf den zuvor vorgestellten Thesen und Voraussetzungen. Er ist daher in sich geschlossen und gibt die Idee der Autorin und ihren Hintergrund bestens wider. Eine durchweg gelungene Analyse, wie sie Sigrid-Ursula Follmann vorgelegt hat, ist immer ein Gewinn für die Wissenschaft wie für den Leser. Ihre Kombination aus soziologischer, psychologischer und kunsthistorischer Untersuchung ist in ihrer Aussagekraft absolut überzeugend und kulturhistorisch betrachtet für Historiker und Kunsthistoriker ein Buch, welches man kennen sollte.