Drei Jahre nach der Veröffentlichung des französischen Originals liegt nun, in einer gelungenen Übersetzung von Horst Brühmann, die deutsche Ausgabe der monumentalen Monografie des Kunsthistorikers und Philosophen Jean-Michel Palmier über Walter Benjamin (1892-1940) vor. In seiner Einleitung betont Palmier, dass es ihm nicht darum ging, 'eine 'neue' Interpretation des Benjaminschen Werkes vorzulegen' , sondern eine systematische Dekonstruktion der Schriften vorzunehmen und die Spannungen herauszuarbeiten, die ihre heutige Aktualität ausmachen.
Von den fünf geplanten Teilen blieben die beiden letzten, Materialismus und Messianismus und Passagenprojekt, wegen Palmiers frühen Todes im Jahr 1998 unvollendet. Im ersten Teil ' Tragödie eines deutsch-jüdischen Intellektuellen ' entwirft Palmier den philosophischen und literarischen Weg Benjamins, der Nationalismus und Militarismus verachtete, den jedoch das aktuelle politische Geschehen nur sekundär interessierte, und umreißt die historische und soziokulturelle Umgebung: Kindheit in einem assimilierten deutsch-jüdischen Elternhaus, Erster Weltkrieg, Weimarer Republik, Nationalsozialismus, Exil, Flucht, Selbstmord. Werk- und Briefpassagen zeugen von Benjamins philosophischen Auseinandersetzungen. In den frühen Debatten mit Gershom Scholem über Judentum, Zionismus und Martin Buber deuteten sich bereits seine Ablehnung des Psychologisierens und die Kritik an einer in seinen Augen oberflächlichen Form des Erlebnisses an, die später in der Ausarbeitung des Begriffs der Erfahrung für seine Geschichtsphilosophie bedeutsam wurde. Bereits 1920/21 im 'Theologisch-politische[n] Fragment' versuchte sich Benjamin an einem Thema, das auch sein Spätwerk prägen sollte: die Konfrontation des Politischen mit dem Messianischen. Ab Mitte der 20er Jahre setzte er sich verstärkt mit dem historischen Materialismus auseinander, diskutierte mit Theodor Adorno und Bertolt Brecht. Palmier stellt Materialismus und Messianismus eindeutig als zwei Diskursstränge des Benjaminschen Denkens heraus, die sich niemals ausschlossen: Judentum und kritische Theorie blieben das Spannungsfeld, in dem Benjamin seine Geschichts- und Sprachphilosophie, seine Konzeptionen von Literaturkritik und Übersetzung entwickelte. Akribisch auf die Texte Benjamins rekurrierend, seine in der Textimmanenz entschlüsselbaren, bisweilen diskrepanten philosophischen Bezugspunkte aufzeichnend, entzieht Palmier das Werk Benjamins den diversen Vereinnahmungen in der Rezeptionsgeschichte.
In den folgenden beiden Teilen konzentriert Palmier sich auf Themen- und Werkanalyse. Er analysiert stringent anhand der Texte Benjamins Grenzgang zwischen Tradition und Moderne, entziffert seine typischen Denkbilder und Begriffe als komplexe hermeneutische Instrumente: Allegorie und Phantasmagorie, Trauer, Verlust der Aura, Katastrophe und Fortschritt, das dialektische Bild, Dialektik im Stillstand und die Kategorie der Rettung als das eigentliche Ziel der historischen Arbeit. Benjamins Texte bieten keine endgültigen Antworten, und kein emanzipatorisches Projekt hat dem von ihm analysierten regelhaft gewordenen Ausnahmezustand gesellschaftlicher Entwicklung bisher eine Alternative entgegensetzen können ' deutlich wird, dass gerade hier die Aktualität Benjamins ansetzt.
In der Einleitung zu seinem eindrucksvollen Werk schreibt Palmier, dass sich kein Exeget einem schlechten Gewissen entziehen könne, 'Benjamin in eine Konzeption der Kultur zurückzuholen, die er in die Luft sprengen wollte.' Der Autor konnte seine Arbeit weder beenden noch redigieren, so blieb sie an einigen Stellen unvollständig und unfertig. Zurückgeholt wurde Benjamin nicht, doch vom Ballast der Sakralisierung befreit.