Der Band versammelt durchgehend solide lesbare Darstellungen literaturtheoretischer Positionen, bzw. auch Positionen, die literaturtheoretisch funktionalisiert wurden. Ein Blick ins Inhaltsverzeichnis zeigt die unfassende Fülle.
I. Textimmanente Ansätze. Annette Luisier: Formalismus (Viktor ¦klovskij, Boris Ėjchenbaum, Jurij Tynjanov) ' Annette Luisier: Strukturalismus (Roman Jakobson, Jan Mukařovský, Roland Barthes) ' Anton Seljak: Intertextualität (Michail Bachtin, Julia Kristeva, Gérard Genette) ' Monika Schmitz-Emans: Dekonstruktion (Jacques Derrida, Paul de Man) ' Ilja Karenovics: Hermeneutik (Hans-Georg Gadamer, Emil Staiger, Paul Ricoeur) ' Andrea Zink: Narratologie (Käte Hamburger, Wayne Clayton Booth, Franz Karl Stanzel); II. Interdisziplinäre Ansätze. Linda Simonis: Biographische Ansätze (Wilhelm Dilthey) ' Linda Simonis: Marxistische Literaturtheorien (Georg Lukács, Walter Benjamin) ' Anton Seljak: Literatursoziologie (Niklas Luhmann, Pierre Bourdieu, Lucien Goldmann) ' Ulrich Schmid: Diskurstheorie (Michel Foucault, Jürgen Habermas) ' Jan Erik Antonsen: Psychoanalyse (Sigmund Freud, Jacques Lacan); III. Kulturwissenschaftliche Ansätze. Dirk Uffelmann: Kultursemiotik (Jurij Lotman) ' Jochen-Ulrich Peters: Wirkungstheorie und Rezeptionsästhetik (Wolfgang Iser, Hans Robert Jauß) ' Sabina Becker: Gender Studies (Judith Butler) ' Oliver Lubrich: Postcolonial Studies (Edward Said, Homi Bhabha) ' Ladina Bezzola Lambert: New Historicism (Stephen Greenblatt) ' Peter Riedel: Medientheorien (David Bordwell, Kristin Thompson, Gilles Deleuze, Lev Manovich). Weiterführende Literaturhinweise und eine Kurzbiographie der Beiträger, neben Personen- und Sachregister (was heute so oft vernachlässigt wird) beenden den für das Studium sehr wichtigen Band.
An einem Beispiel sei gezeigt, was der kritische Leser an Anstrengung aufbringen muss, um die Ansätze in ihrer Perspektivität richtig zu erfassen. Monika Schmitz-Emans stellt die Dekonstruktion Jacques Derridas und Paul de Mans souverän dar, das Wesentliche notierend, überall auch für Studierende verständlich (jedenfalls für gute, motivierte). Wie schwer es übrigens heute ist, irgendetwas Richtiges zu sagen, zeigt diese Stelle: 'Die Dekonstruktion bereitet den Weg für die vor allem von Julia Kristeva (geb. 1941) entwickelte Konzeption von Intertextualität, derzufolge jede sprachliche Bekundung und jeder Schreibvorgang in einem offenen Intertext lokalisiert ist und stets Mosaike von Zitaten erzeugt.' (116) Dazu brauchte man Frau Kristeva nicht, das hatte schon Gottfried Benn prägnant formuliert: Worte, Worte, Substantive, wenn Worte ihre Flügel öffnen, entfallen ihnen Jahrtausende.
Kritische Bildung ist nötig, um solche Sätze verstehen zu können: 'Es gibt kein Subjekt, das den Zeichen zugrunde läge, sondern das sog. Subjet [!] wird wie all seine Gedanken und Äußerungen selbst erst im Spiel der Zeichen hervorgebracht.' (115) Einmal hat der Franzose Derrida hier seinen Landsmann Descartes ins Dunkle gestellt (cogito ergo sum, sc. ergo: ego est), aber auch Kant in Königsberg liegen lassen: 'Das: Ich denke, muß alle meine Vorstellungen begleiten können' , hatte er etwas sperrig formuliert. Derridas Negation des Ich bleibt im 'seichten Element des Meinens' (Hegel); sie ist eine Glaubensäußerung, deren Evidenz die der prophetischen Position ist; auch diese Herren empfinden ihre Gedanken als gottgegeben, als wahr. Derrida ist übrigens mit seiner Meinung ganz bei Buddha, der bekanntlich das Ich ablehnt, dafür aber ein Selbst einführen muss, um etwas zu haben, was das Nirwana erstrebt.
Derrida kennt nur die Genesis, aber was da im Spiel der Zeichen entsteht, hat Geltung. Er macht damit den Fehler nach, den einer seiner Gründungsväter vorgemacht hatte: Nietzsche entfaltet glänzend in der 'Genealogie der Moral' deren Entstehung; aber das Papier ging ihm aus, als er über die Geltung dieser genetisch in bestimmten Situationen entstandenen Maximen hätte schreiben müssen; hier bleibt er stumm.
Eine heilige Kuh Derridas, man darf sagen eine Herzensangelegenheit, ist das 'Akzeptieren des Anderen' (117). Besonders in der Diskussion auch mit Gadamer hat sich Derrida darauf viel zugute gehalten, dass seine Philosophie den Anderen respektiere. Er unterstellt, explizite, Gadamer einen Herrschaftsanspruch, das hermeneutische Verstehen des Heidelbergers vergewaltige das zu Verstehende.
Hier ist ein Punkt, wo man deutlich Mängel, den blinden Fleck der Derridaschen Reflexion zeigen kann. Er ist unmittelbar aus seiner individuellen Situation als jüdisch-algerischer Franzose abzuleiten. Wohlfeil ist dies 'Akzeptieren des Anderen' und niemand wird beim Multikulti-Straßenfest mit Kaiserwetter dagegen etwas sagen wollen. Niemand.
Deshalb bleibt der, der etwas sagen möchte, fast deprimiert, resigniert, still. Er sieht überall das Andere in die unbedingt zu respektierende Position geschoben, das Andere ist indes in großen Teilen nicht akzeptabel. Nicht akzeptabel für wen? Für eine säkulare, abendländische, humanistisch-aufgeklärte, kritisch-abwägende Vernunft, die von Derrida allerdings als logozentriert diffamiert wird. Das nicht akzeptable Andere geht von Tellerlippen ' körperlichen Verstümmelungen (Somalis, die in dieser Republik leben, schicken ihre Mädchen in die Heimat; dort werden sie pharaonisch beschnitten) ' das geht bis hin zur Behandlung der Frau im orthodoxen Islam, usw. die Aufzählung endete, wollte man sie weiterführen, im Unendlichen. Hier ist die Maxime 'Akzeptanz des Anderen' ' im Berliner Neudeutsch ' wenig hilfreich, nämlich zynisch. Hier braucht es ein starkes Subjekt ' das aber beerdigt ist, so wie Gott bei Nietzsche, das auf reflektierte Werte sich stützt und das weiß, wo es lang zu gehen hätte. Der Ruf nach dieser 'Akzeptanz des Anderen' ist trivial und gefährlich, weil sie Ehrenmorde in der Türkei, Mädchenmorde in Indien verdeckt. Gadamer hatte da noch Autorität und Wahrheit (schon im Titel seines Buches). Akzeptanz ist längst abgedeckt durch globale Alltagswerte wie Gastfreundschaft, Takt, Höflichkeit, Anstand, Respekt, Menschlichkeit, Gewaltverzicht (dass solche Alltagswerte überall missachtet werden, ist ein anderes Kapitel, das ist anthropologisch und verdankt sich der allgemeinen menschlichen Sündhafigkeit/Gebrechlichkeit: Unvergessen bleibt Fichtes Satz vom Zeitalter der vollendeten Sündhaftigkeit). Bei Derrida aber wird diese Forderung idiosynkratisch, überempfindlich funktionalisiert. Nicht vergessen ist bei diesen Bemerkungen, dass Derrida, der sowieso mit der Vieldeutigkeit der 'Spur' spielt, unter dem Anderen auch das versteht, was Adorno das Nichtidentische nannte: nicht eine Person ist gemeint ' der Andere ' sondern etwas am Objekt, was dem Zugriff sich entzieht, was noch nicht in den Begriff eingegangen ist.
Derrida kommt auch mit der Meinung auf den Markt, 'das Singuläre' sei 'unrückführbar auf den Begriff' (118); das wussten wir schon, das haben wir im lateinischen Grundkurs gelernt: individuum est ineffabile. Da ist bei Derrida nichts, aber auch gar nichts, was substantiell über den Ertrag der Tradition hinausginge; seine Innovationsinsuniation bleibt leer.
Was bleibt von den Meisterdenkern? Bekanntes; dass das Ich nicht Herr im eignen Haus ist (S. Freud), es bleibt die Sprachskepsis, von Platon im 7. Brief, wenn er denn echt ist, erstmals notiert bis hin zu Hiofmannsthals Lord Chandos, dem die Worte wie Moder im Mund faulen. Es gibt keine adaequatio rei et intellectus, ' Zeichen sind niemals Zeichen von etwas Bestimmtem' , (115) Hier entsteht, der schon von englischen Wissenschaftlern geäußerte Verdacht der Travestie, der Camouflage. Derridas Schriften entsprächen nicht 'accepted standards of clarity and rigour' , er habe, das war auch auf deutscher Seite schon früh formuliert worden, dadaistische 'tricks and gimnicks' (107).
Und es bleibt eine Hoffnung: Theorien sterben, wie die Wissenschaftsgeschichte weiß, mit dem Tod ihrer Erfinder. Auch das sog. dekonstrutivistische Verfahren wird ' durch die Wirkungsgeschichte Gadamers ' seinen angemessenen Platz bekommen im Panoptikum der verstaubten Meinungen, es wird seine Relevanz und Akzeptanz verlieren.
Vlg. zum Ganzen auch meine Rezensionen in WLA 1/2010: 'Einführung in die Gender-Theorie' und 'Hermeneutik'.