Hermeneutik

Grondin, Jg. 1955, hat selbst in Deutschland, sogar bei Gadamer, studiert; er ist heute Professor in Montréal, Canada. Seine präzise Einführung ist von bewundernswerter Kürze und Prägnanz, eine Gesamtschau von Schleiermacher über Dilthey zu Heidegger, Gadamer, mit einem Seitenblick auf die existentialtheologische Hermeneutik von Bultmann, ohne Betti zu vergessen. Ein Schwerpunkt ist die nachgadamersche Diskussion: die Kritik der Hermeneutik durch die Ideologiekritik, Paul Ric½urs Hermeneutik des Vertrauens und des Verdachts, die Dekonstruktion Derridas bis hin zu Rortys Pragmatismus und Vattimos Nihilismus. Als Frage bleibt, ob Grondin fürs Proseminar (in Bologna kaum) oder fürs Oberseminar schreibt. Man darf eher vermuten für das letztere, für doch schon Fortgeschrittene, die enorm viel lernen können durch die souveräne Art der Darstellung.
Freilich sind immer, gerade bei einer solch kurzen Präsentation, ergänzende Bemerkungen möglich; so hätte man bei Heidegger gern gesehen, dass dessen Anspruch, eine 'Hermeneutik der Faktizität' zu liefern, ausdifferenziert werden kann. In 'Sein und Zeit' schreibt er von einem (Da-)Sein, dem es in seinem Sein um sein Sein selber geht ' er schreibt, wie sein Lehrer Husserl in seinem Widmungsexemplar vermerkt, eine Anthropologie, durchaus nicht, was Heidegger in seinem Selbstverständnis meinte, eine Fundamentalontologie und Hermeneutik des Daseins. Es ist eine Partialontologie, eben eine Anthropologie, die er für das Ganze setzt (bekanntlich gibt es bei Heidegger auch keine Theologie). Heideggers Ablehnung, Kampf gegen die abendländische Metaphysik kann nur polemisch ablaufen, nicht substantiell; er baut die zentrale philosophische Denkanstrengung Europas zu einem Popanz auf, den man wie das Kind mit dem Bade ausschütten kann. Hier darf bei Heidegger Biographisches vermutet werden: nachdem ihm sein tiefer Fall bewusst wurde, die Nazis als das erscheinende Sein selbst zu begreifen, hatte er jede Orientierung verloren ein Phänomen, das auch bei Paul de Man diagnostiziert werden kann: der frühe Rechtsaußen, der antisemitische Texte schreibt, wird zum Dekonstruktivisten, dem jede Kraft, Wahrheit zu denken, im paradoxen Dilemma von Rhetorik und Logik untergeht.
Wichtig ist der Hinweis auf Emilio Betti, gest. 1968, dessen monumentale 1000-seitige Teoria generale della interpretazione kaum noch bekannt ist; der Italiener hält, auch gegen Gadamer daran fest, dass die mens auctoris, die Absicht des Autors, zu ermitteln sei. Vielleicht resultiert diese Position auch aus Biographischem. Betti war Jurist und hier benötigt man noch immer die Meinung des Gesetzgebers (Juristisches bleibt bei Gadamer, der am Leitfaden der Kunst seine Hermeneutik entwickelt hat, im Hintergrund). Üblicherweise wird eine solche Haltung aber keine Akzeptanz mehr haben, keine Akkreditierung bekommen. Sie gilt als objektivistisch. Betti hatte Gadamer vorgehalten, die Bedeutung, die ein Text habe, mit der Bedeutsamkeit zu velwechsern, die er für uns, für mich heute hat. Schon Ein-Wort-Texte wie 'Diebstahl', 'Mord', 'Totschlag', 'fahrlässig', 'grob fahrlässig' usw. haben eine (feste) Bedeutung, die mehr oder weniger definierbar ist. Ihre Bedeutsamkeit für mich ist situativ bedingt. Gadamer war sich sehr wohl der besonderen Rolle der juristischen und auch theologischen Hermeneutiken bewusst. Sie haben es mit starken Texten zu tun, die das rezipierende Subjekt neutral stellen wollen (so wie der Naturwissenschaftler üblicherweise nicht in seine Konstrukte eingeht). Gadamer sieht klar: Im Falle eines Richters 'heißt Verstehen und Auslegen: einen geltenden Sinn erkennen und anerkennen'. Auch in der Theologie geht es selbstredend um 'die Auslegung einer gültigen Wahrheit'. Und, zusammenfassend. 'Wir können somit als das wahrhaft Gemeinsame aller Formen der Hermeneutik herausheben, dass sich in der Auslegung der zu verstehende Sinn erst konkretisiert und vollendet (so wie die musikalische Aufführung die Partitur erst realisiert), dass aber gleichwohl dieses auslegende Tun sich vollständig an den Sinn des Textes gebunden hält. Weder der Jurist noch der Theologe sieht in der Aufgabe der Applikation, der Anwendung auf mich, für mich, eine Freiheit gegenüber dem Text.'
Die Ideologiekritik, die besonders von Habermas vorgetragen wird, der lange von Gadamer gefördert wurde, wird von Grondin deutlich entfaltet. Habermas hat Probleme mit der Autorität der Tradition, die bekanntlich für Gadamer bedeutsam ist. Er sieht viel zu sehr eine verzerrte, asymmetrische Kommunikation, die geschichtlichen Dokumente sind bestimmt von Gewalt und Herrschaft. Die ideologiekritische Kritik an der Hermeneutik wurde zentral von Habermas artikuliert auf der Basis 'der emanzipatorischen Kraft der marxistischen Ideologiekritik'. Sie hatte für ihn ' damals ' die 'Kraft des besseren Arguments'. Damals. Zwischenzeitlich dürfte klar sein, dass man bei Odo Marquardt etwas hätte lernen können. Er begreift den Marxismus als eine Form optimistischer Geschichtstheorie, die den Himmel auf Erden mehr oder weniger schnell, nach dem nächsten 5-Jahres-Plan verwirklicht sieht, nach Einführung der Reichen-, Vermögens-, Erbschafts-, Börsen-, usw.- Steuer, der Abschaffung des Privatbesitzes ' Eigentum ist Diebstahl. Marquardt stellt gegen dieses Konstrukt eine anthropologische Hermeneutik der Endlichkeit und Gebrechlichkeit des Menschen. Der Einzelne bleibt vorderhand ' solange ein sprunghafter Fortschritt der Medizin noch nicht erreicht ist ' bestimmt vom Altwerden, von der Krankheit und vom Sein zum Tode. Eventuelle Triumphe der Gattung: ein Sieg über die Taliban in Afghanistan, können ihn als Mr. Parkinson in Alzheim wohnend nur gering erheben. Ein Sieg der Freiheit ist allenfalls in späten Jahren zu erwarten, wenn weitere Kant'sche 'Geschichtszeichen' (wie die Französische Revolution, die Besiegung des Terrors) wirklich geworden sind ' und die Erde bis dahin ihre technologische Metamorphose überlebt. Gadamer hatte in einem Gespräch 1986 geäußert: 'Mir fehlte an der Ideologiekritik die Ideologiekritik an der Ideologiekritik.' Was so paradox klingt, meint einfach: es fehlt die Kritik an der naiv-optimistischen Geschichtsphilosophie marxscher Provenienz.
Nachdrücklich weist Grondin auf Paul Ric½urs Hermeneutiken des Vertrauens und des Verdachts, des Argwohns hin, die bei uns noch immer etwas im Schatten der Beachtung stehen. Der Hermeneutik des Vertrauens gilt ihr Text als stark. Sein Sinn wird als evidente Wahrheit begriffen, die den Rezipienten ergreift. Muster ist die Bibelexegese; sie hat ' in ihrem Selbstverständnis ' das zu hören, was Wort Gottes ist. Verschiedene Theoreme ' inspirierter Schreibakt, heiliger Text, gar heilige Sprache, Offenbarung usw. ' sollen eine Immunisierung, eine Legitimierung garantieren. Gehorsam wird verlangt, Ungehorsam ist mit strafbewährten Drohungen versehen (Marsch in die Hölle!).
Manches Subjekt hört diese Botschaften zwar, ihm fehlt aber die Kraft, die Fähigkeit zu glauben. Lenin gehört, neben Goethes Faust, zu dieser Fraktion, ihm gilt Vertrauen als gut, Kontrolle aber sei besser. Adorno lebte Tag und Nacht mit dem Ideologieverdacht, unter den er alles stellte, was nicht von ihm selbst geäußert ward. Hermeneutiken des Argwohns und des Verdachts sehen überall Gewalt, Herrschaft, von oben über unten, von Mann über Frau, von Bruder über Schwester. Sie sehen keine Solidarität, keine 'guten' Werte: das Ganze ist das Unwahre, im falschen Ganzen kann es nichts Gutes geben (der Schokoweihnachtsmann, ein Gutsel für die Kinder, ist schädlich für die Zähne). Diese Hermeneutiken sehen den homo als hominis lupus, den Menschen, der nur an sich denkt, allenfalls an seine Nächsten, seine Familie, seine Sippe, seinen Stamm, seine Nation etc.
Ric½ur plädiert für eine Vermittlung beider, eine wechselseitige Belehrung, Vertrauen, Glaube auf der einen und Skepsis, Argwohn auf der anderen Seite sind nötig, keine gilt ausschließlich. Eine Lösung des theoretischen Dilemmas der binären Opposition von Vertrauen und Argwohn sieht Ric½ur im Ethischen (hier ist er ganz nah am Pragmatismus Rortys, s.u.). Im homme capable erkennt er die Kraft, die Welt gestalten kann. Er erinnert damit an die Monadologie von Leibniz, der als letztes das Subjekt erfand, als substance, als être capable d'action, als ein Sein, das der Handlung fähig ist. Für Ric½ur ist der 'Mensch das [handelnde] Wesen der Möglichkeiten und des Strebens (conatus)'. Dies aber eingepasst in ein 'Streben nach dem guten Leben mit und für andere in gerechten Institutionen'. Ric½ur hat also seinen 'Faust' kritisch gelesen. Der will in seinem unermüdlichen Streben ohne Institutionen zurechtkommen, nur auf sich gestellt. Und er denkt auch nur an sich, wie die Ermordung von Philemon und Baucis zeigt. Mit der Formel 'sich selbst wie einen anderen' sehen, erinnert der Franzose an Menschenbilder, wie sie von Albert Schweizer oder Mutter Teresa vertreten wurden.
Sehr sauber, klar und endlich! auch kritisch arbeitet Grondin die Position des Derridadaschen Dekonstruktivismus heraus. Hier beginnt eine vorsichtige, noch respektvolle Dekonstruktion der Dekonstruktion dieses Meisterdenkers. Gezeigt werden die background-Theoreme des Franzosen, dass er gegen 'die vergegenständlichende Tendenz und den Herrschaftswillen des abendländischen Rationalismus' kämpft (S. 98). Derrida habe keine Probleme, 'den für metaphysisch gehaltenen Begriff der Bedeutung und der Wahrheit selbst in Frage zu stellen' (S. 98). Überhaupt 'prangere er ohne Unterlass einen Herrschaftswillen an' (S. 99), vulgo auch Logozentrismus. Universal ist Unterdrückung, Herrschaft des Starken, des logos, über Vieles, was sonst sein könnte (Seele, Gefühl, bei Gemüt wird es aber schon gefährlich). Verstehen bedeutet für den sensiblen Derrida eine Vergewaltigung des Anderen, 'Verstehen ist eine Form von Gewalt, die gegenüber dem anderen ausgeübt wird' (S. 107). Dafür befürworte Derrida 'das unendliche, wahrheitslose Spiel der Zeichen', das auf 'die Idee einer letzten Entzifferung' verzichte. (Der Bezug zu Schiller, in den Zeiten seines 250. Geburtstages naheliegend, wird nicht gesehen. Auch für den Marbacher Klassiker ist das Menschliche nur dort wirklich, wo es im Spiel ist ... Allenfalls anschließbar in einer rettenden Kritik wäre Derridas Skeptizismus an Walter Schulz. Der Tübinger Philosoph, gest. 2000, hatte eine Theorie des Schwebens, des Im-Schweben-Lassen, entwickelt, die kontroverse Positionen nicht entscheidet, sondern quasi, modern formuliert, performativ aushandelt. Man darf auch an die antike Skepsis denken; dort wird epochē, Urteilsenthaltung, geübt, wenn Isosthenie erfahren wird: die gleiche Kräftigkeit [stenos=Kraft] von Positionen. Derridas Verzicht auf eine Wahrheit, die man schwarz auf weiß nach Hause tragen kann, gehört begriffsgeschichtlich hierher.) Derrida wolle sich dem Herrschaftswillen des Verstehenden widersetzen, insofern dürfe er als 'anti-hermeneutisch' gelten. Gadamer, der Derrida in Paris getroffen hatte, ist übrigens 1986 auf diese empfindliche Kritik von Derrida eingegangen: es 'droht beständig die Gefahr, das Andere im Verstehen 'anzueignen' und damit in seiner Andersartigkeit zu verkennen.' (Ein klassisch gewordenes Beispiel dürfte hier heute Edward Saids Buch 'Orientalism' sein, wo beschrieben wird, wie das Bild des Orients, das der Westen entwirft, auch ein westliches Konstrukt bleibt, aus Projektionen besteht, Maskierungen, die nicht dem Sein und Selbstverständnis der 'Orientalen' entsprechen.) Gadamer hat die Derridasche 'Verdeckung der Andersheit' als 'eine durchaus nicht abweisbare Erfahrung' apostrophiert. Im Gespräch hat Gadamer auch gesagt, die 'Seele der Hermeneutik' bestehe darin zu erkennen, dass 'es vielleicht der andere ist, der recht hat'.
Ein weiteres Hauptmotiv der Derridaschen Reflexion ist die Verschiebung der Bedeutung oder der Präsenz, die différance. Nur trace (Spur) und dissémination (Ausstreuen des Samens) bleiben im 'Spiel der Perspektiven und der Masken' (S. 103). Derrida beklagt die 'verlorene und unmögliche Gegenwart des abwesenden Ursprungs'. Man darf vielleicht daran denken, dass das auf den Autor selbst zutrifft: als algerischer Jude, der nach Frankreich flüchten musste, bleibt sein Ursprung abwesend. Wer will, kann diese Klage über den abwesenden Ursprung aber auch, logozentriert, in die abendländische Tradition einreihen, sie als abgetakelten Topos abendländischer Reflexion begreifen. Die Romantiker waren Meister dieser nostalgischen Sehnsucht nach dem Ursprung. Sie hatten das allerdings bei den deutschen Mystikern und deren Urgrund-Suche gelernt. Und schon der Heilige Augustinus kannte das Motiv der Heimatlosigkeit, der Ursprungslosigkeit (er fand den Ursprung alteuropäisch noch in Gott). Dies wird bei Derrida durch eine teils hermetische, aber auch innovative Stilistik aufgemöbelt und bloß restauriert als neu ausgegeben.
A propos: Wort und Begriff 'Maske' ist seit und mit Derrida und Lacan wissenschaftlich Mode geworden; allüberall geht es um Inszenierungen (in performances) und Maskeraden des Ichs. Dringend nötig ist hier ein Zwischenruf: diese Formulierungen legen nahe, Inszenierung, Maske, sei freiwillig, autonom vollzogen. Negiert ist damit das Moment der Abhängigkeit, des Zwanges, dem das arme Subjekt schon immer ausgesetzt ist (seit Platon erkannt hatte, dass ein böses, wildes Pferd dem logosbestimmten Wagenlenker Verdruss bereitet).
Der Prager Kafka hatte übrigens in einem frühen, ganz kurzen Text die Sinnverschiebungen der Dekonstruktivisten antizipiert. Er ist von Max Brod 'Die Bäume' überschrieben worden. 'Denn wir sind wie Baumstämme im Schnee. Scheinbar liegen sie glatt auf, und mit kleinem Anstoß sollte man sie wegschieben können. Nein, das kann man nicht, denn sie sind fest mit dem Boden verbunden. Aber sieh, sogar das ist nur scheinbar.'
In der Rezeption und Evaluation des Derridaschen Theorems von der Verschiebung des Sinns sollte man seine Basis stärker beachten: es ist die Husserlsche phänomenologische Beschreibung der Dingwahrnehmung. Einen Würfel ' was immer auch wahrgenommen werden kann ' sehe ich nie ganz, seine Totalität ist nie präsent. Ich kann den Würfel drehen, wenden, von vorn, von hinten, von der Seite ansehen, aber immer nur nacheinander, die Dingwahrnehmung ist eine unendliche Abfolge von Ansichten, Husserl hatte gesagt: von Abschattungen. Diese Dingwahrnehmung wird für Derridas Denken konstitutiv. Und hier liegt der seltsame Fehler, dies Wort darf man benutzen: auch wenn Präsenz nie voll gegeben ist, dann sind die Abschattungen doch immer die des bestimmten Gegenstandes, sagen wir eines Tisches ' und nicht eines Baumes. Also von allen disséminations bleibt doch der eine, wenn auch ausgefranzte, Sinn.
Ebenso ist es mit der Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins, die Husserl beschrieben hat. Das Bewusstsein kennt zwar eine Gegenwart, das nunc stans. Dies Nun im Jetzt ist aber klein und schneller vergänglich als die Null im Zahlensystem. Es verschwindet nämlich sofort in der Retention, in der Vergangenheit und bleibt allenfalls als habitueller Bestand, der durch Erinnerung zurückgerufen werden kann. Genährt wird dies nunc stans (die stehende und doch gehende Gegenwart) durch die Protension, die jeweils auf mich zukommt, das im stream of consciousness Herantreibende. Diese Vorstellung, das Husserlsche innere Zeitbewusstsein und den W. Jamesschen stream of consciousness, hat Derrida für seine Theorie der Sinn-Bedeutung-Gegenstands-Konstitution übernommen. Sinn kann es nicht als Fixierbares geben, es gibt nur den Heraklitisch unendlich fließenden Fluss des panta rhei. Die Derridasche Vorstellung kann als quasi transzendentales Konstrukt ' als Bedingung der Ermöglichung von Sinn, Bedeutung ' durchgewunken werden; sie mag insofern in der Theorie richtig sein. Sie taugt aber nicht für die Praxis einer empirischen Sinnbestimmung.
Verdeutlichen kann man sich dieses Phänomen der Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins an der Wahrnehmung schon eines Wortes: wenn der erste Buchstabe (Laut) im nunc stans steht, stehen will (sagen wir das 'w'), dann wird es schon verschoben vom nachdrängenden o, das vom r, das vom t. So habe ich zwar nie das ganze Wort als 'Wort' ganz präsent im nunc stans, in der Gegenwart und doch habe ich Wort und Sinn von 'Wort' konstituiert und nicht nur w, o, r, t. Das ganze 'Wort' ist hier mehr als die Summe seiner traces, seiner disséminations, seiner Abschattungen, mehr als die Summe seiner Teile. Hätte Derrida recht, dann wäre es nicht möglich, eine Melodie als Melodie, als harmonisches Ganzes erlebend zu erfassen. Derrida beschreibt mit großem Getöse, seine Herkunft aus Husserl und James verschleiernd, den transzendentalen Wahrnehmungsprozess, quasi den Sonntag, der aber für die Empirie, den Werktag des wirklichen Lebens, belanglos bleibt.
Der Amerikaner Richard Rorty (gest. 2007) geht auch von dem Satz aus. 'Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache.' Er ist eine Variante von Heideggers wunderbarem Diktum: 'Die Sprache ist das Haus des Seins.' Aber, auch er denkt popmodern, es sei eine Illusion, die Möglichkeit einer sicheren Erkenntnis, einer objektiven, konstituierbaren Realität, einzuräumen. Die alte adaequatio rei et intellectus, die Entsprechung von Denken und Wirklichkeit, wird bestritten, es entsteht eine relativistische Position, die von Gadamer so nicht mitgetragen würde. Gadamer hält, wie schon der Titel seines Hauptwerkes sagt, an der Wahrheit (und ihrer Erkennbarkeit) fest. Rorty entwickelt eine anti-ontologische, nominalistische Position; es bleibt für ihn das Gespräch und der Pragmatismus, so dass Grondin prägnant von einer 'pragmatischen Verabschiedung des Wahrheitsbegriffes' reden kann.
Der Jüngste, der sich in der Debatte profiliert hat und auf den Grondin fundiert eingeht, dürfte Gianni Vattimo sein, Jg. 1936, auch ein Heidelberger Schüler Gadamers, aber, wie so viele Schüler, kein gehorsamer Zögling. Vattimo vertritt einen hermeneutischen Nihilismus. 'Das Sein an sich ist nichts.' Fast wie bei Hegel in der 'Wissenschaft der Logik': 'Sein, reines Sein ' ohne alle weitere Bestimmung ... Es ist die reine Unbestimmtheit und Leere ... Das Sein, das unbestimmte unmittelbare ist in der Tat Nichts und nicht mehr noch weniger als Nichts.' (I. Buch, 1. Kapitel) Freilich auch diese moderne, popmoderne Position ist selbst nur ein Konstrukt, eine Interpretation, die irgendwo beliebig bleibt. Sie ist Ausdruck eines 'schwachen Denkens', das sich nicht mehr die Kraft zumutet, Wahrheit entschieden zu formulieren. Alles ist nur Sprache, nur Perspektive ' immer winkt Nietzsche mit dem Zaunpfahl, er bleibt der Großvater postmoderner Beliebigkeit. Es gibt keine Fakten, nur perspektivische Interpretationen. Indes: dem performativen Selbstwiderspruch entgehen diese Positionen nicht: sie behaupten eine Gewissheit, dass es keine Wahrheit gebe, setzen aber genau diese Behauptung als Wahrheit an. Erich Rothacker hatte das seinerzeit als Form des dogmatischen Bewusstseins beschrieben. Alle möglichen Theorien sind Ideologie, nur die eigene ist in der Wahrheit: Alle theologischen, alle politischen Positionen sind Häresien, ihre Vertreter früher als Ketzer leicht brennbar oder nach Sibirien verschickbar. Nur die Theologie des Vatikans, die Ideologie von Partei und Kreml ist in der Wahrheit.
Gadamer freilich hat dieses Denken selbst geweckt. 'Die ich rief die Geister, werd ich nun nicht mehr los.' Er hat den Objektivismus der Geisteswissenschaften kritisiert, das Subjekt gestaltet in der Horizontverschmelzung den zu verstehenden Sinn mit. So können die Schüler, wie so oft übertreibend, sagen: Alles ist Spiel der Sprache: ja die Sprache selbst ist perspektivisches Konstrukt. Was die gender studies heute sich zur Parole gemacht haben. Die Sprache ist phallozentriert, bei Lacan, männlich. Herrschaft, Gewalt ist überall; das Subjekt bestimmt ' in den bekannten Sprachen ' das Objekt, das Verb. Beide müssen sich kuschen, dem strengen Vater gehorchen.
Man darf sagen, gefährlich wird die Position, wo sie Weiteres von Nietzsche übernimmt: den Willen zur Macht, die Vorstellung, dass alles vom Subjekt abhängig sei, seinem bestimmenden Willen. Auch die Werte werden dann willensbestimmt, die Wahrheitsfrage bleibt außen vor. Ein Wort genügt, um den Kern des Problems aufzuzeigen: Nazis. Sie haben, wie im November 2009 auf einer Berliner Tagung formuliert wurde, spätestens mit dem Überfall auf Polen aus ihrer 'Volksgemeinschaft' eine 'Wolfsgemeinschaft auf dem Weg zum vorstaatlichen Naturzustand' gemacht (vgl. FAZ vom 02.12.2009). Das aber war, als Setzung eines starken Machtwillens, 'begründbar'. Das Lebensrecht des besseren Volkes, der Übermenschen, hat Priorität; die anderen sind als Untermenschen zum Dienen bestimmt.
Diese Positionen haben auch Giovanni Pico della Mirandola (1463-1494) falsch beerbt. Der große italienische Humanist ist der eigentliche Vater der Postmodernen, verborgen, kaum von jemandem genannt, lässt er in seiner Rede 'de dignitate hominis', die er 1486 als Einleitung zu einer geplanten Diskussion von 900 Thesen verfasste, Gott zu Adam, den er 'in den Mittelpunkt der Welt' gestellt hatte, sagen: 'Keinen festen Ort habe ich Dir zugewiesen und kein eigenes Aussehen (du hast kein Fell, du brauchst Kleidung, du kannst dich mit dem Farbeimer maskieren), ich habe Dir keine Dich allein auszeichnende Gabe verliehen, da Du, Adam, den Ort, das Aussehen, die Gaben, die Du Dir wünschst, nach eigenem Willen und Ermessen (!) erhalten und besitzen sollst. Die beschränkte Natur der übrigen Wesen wird von Gesetzen eingegrenzt (Tiere sind instinktgeleitet), die ich gegeben habe. Du sollst Deine Natur ohne Beschränkung nach Deinem freien Ermessen, dem ich Dich überlassen habe, selbst bestimmen (das ist der blanke Wahnsinn eines der ganz großen Humanisten). Ich habe Dich in die Weltmitte gestellt, damit Du umso leichter alles erkennen kannst, was ringsum in der Welt ist. Ich habe Dich nicht himmlisch noch irdisch, nicht sterblich noch unsterblich geschaffen, damit Du Dich frei, aus eigener Macht, selbst modellierend und bearbeitend zu der von Dir gewollten Form ausbilden kannst. Du kannst ins Untere, zum Tierischen entarten; Du kannst, wenn Du es willst, in die Höhe, ins Göttliche wiedergeboren werden.' Das ist die Selbstermächtigung des modernen Menschen, die in gewisser Weise auch von der Philosophie Fichtes mit dessen Tathandlung und der Setzung des Nicht-Ich durch das Ich propagiert wurde. Nur 'wohlverstanden' im Sinne Edmund Husserls ist sie in einer rettenden Kritik beerbbar (Übrigens hat einer der größten Bösewichter unserer deutschen Literatur, Schillers materialistischer Nihilist Franz von Moor, bei Pico gelernt, ohne ihn zu kennen: 'wozu ich mich machen will, das ist nun meine Sache'; NA 3, 18).
Wir dürfen und sollen uns also selbst modellieren, modern: genetisch konstruieren. Die Bibel lehnt da noch ausdrücklich eigenen Rat ab (Ps 81, 12).
Alteuropa hatte eine sinnstiftende Subjektivität, quasi am Leitfaden der platonischen Ideen, die am topos hyperuranios, am überhimmlischen Ort ewig und unveränderlich weben und sind; mit den Descartesschen ideae innatae wusste man, wo es langgeht. Goethe hat dieses Modell im von ihm selbsterfundenen Mythos von den Müttern poetisiert, zu denen Faust im zweiten Teil der Tragödie hinab (oder hinauf) steigt ('Versinke denn, ich könnt' auch sagen: steige!'). Letztlich war Gott für die Tradition das Karlsruher Bundesverfassungsgericht. Er gab die Richtlinien des Handelns vor. Diese Instanz ist abgeschafft, der postmoderne Nihilismus, der sinnentleerte Konstruktivismus steht da in einer kalten Welt ...