Sprachliche Kürze
Konzeptuelle, strukturelle und pragmatische Aspekte

Die 27 Beiträge des Sammelbandes 'Sprachliche Kürze' sind 'so divergent wie ihre Themen' (S. 3). Gemäß dem Untertitel des Buches sind die Aufsätze den drei großen Bereichen 'konzeptuelle Aspekte' (6 Beiträge), 'strukturelle Aspekte' (13 Beiträge) und 'pragmatische Aspekte' (8 Beiträge) zugeordnet. Die Autoren kommen aus unterschiedlichen Disziplinen, sie verfolgen unterschiedliche theoretische und methodische Ansätze, sie setzen unterschiedliche Schwerpunkte wie kommunikative Effizienz, Rhetorik und Stilistik, Kurzschriftsysteme, Kurzwörter und Kurzwortbildung, Zusammenhang zwischen Kürze, Morphologie und Syntax, Texte/Textsorten, Alltagssprache, Fachsprache, Werbesprache, Deutschunterricht. So wird auch immer wieder neu definiert, was im Kontext des jeweiligen Beitrags unter sprachlicher Kürze bzw. Kürzung verstanden wird. Mehrere Aufsätze zu strukturellen Aspekten der Kürze thematisieren Konventionen in nicht-deutschen Sprachräumen (englisch, französisch, italienisch, schwedisch/dänisch/norwegisch/isländisch, ukrainisch, russisch).
Sprachliche Kürze ist textsorten- und handlungsgebunden. Das zeigen nicht nur die konzeptionstheoretischen und konzeptionshistorischen Beiträge. Die Möglichkeit der sprachlichen Kürze gibt es in allen behandelten Sprachfamilien. Gleichwohl unterscheiden sich die Typen in qualitativer und quantitativer Hinsicht, was sich durch die Lektüre mehrerer Beiträge erschließt. Auch innerhalb einer Sprachfamilie sind die Verhältnisse zwischen den Einzelsprachen vergleichbar, lassen sich aber nicht übertragen: Zum Beispiel wird im Deutschen, im Englischen und im Französischen das Lexem Bus bzw. bus verwendet. Der Kürzungsprozess ist derselbe (Reduktion auf eine Endform), die Langformen unterscheiden sich (dt./engl. 'Omnibus' bzw. 'omnibus', frz. 'autobus'). Während man im Italienischen und Französischen automobile zur Kopfform 'auto' kürzt, gebraucht man im Schwedischen, Dänischen, Norwegischen anstelle von automobil die Endform 'bil'. 'Uni' gibt es als Kopfform im Deutschen, Englischen und Italienischen (für 'Universität', 'university' bzw. 'universitá'), im Ukrainischen lautet die Form 'univer' (für 'universytet'). Abkürzungen können sowohl in verschiedenen Sprachfamilien für mehrere Inhalte stehen, d.h., der Kontext ist für die richtige Auflösung unabdingbar: 'PC' bzw. 'pc' kann personal computer, post christum, political/politiquement correct bedeuten. Kürzere Formen können sich im Laufe der Zeit so weit verselbständigen, dass die Langformen nicht mehr bekannt sind, dass sich die kürzeren Formen gegebenenfalls semantisch weiterentwickeln und im Gegensatz zu den Langformen Bestandteile von Wortbildungen sind (dt. Bundesausbildungsförderungsgesetz > BAföG/Bafög als Varianten zur Langform (Bafög zunehmend mit der Bedeutung 'das Auszubildenden und Studierenden aufgrund des Bundesausbildungsförderungsgesetzes zustehende Geld') > Bafög-Amt/Opfer ' *Bundesausbildungsförderungsgesetzamt/-opfer. Zu den Gemeinsamkeiten gehören weiter flexionsmorphologische Abweichungen im Vergleich zu den Langformen, fehlende Aufnahme der Kurzformen im Wörterbuch, fachsprachliche oder umgangssprachliche Markierung, deutliche Zunahme (insbesondere in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts), Entlehnungen, Textsorten.
Diachrone Aspekte sind sowohl in den sprachhistorischen als auch in den synchron-gegenwartssprachlichen Beiträgen relevant. Länge und Kürze auf allen sprachlichen Ebenen werden einander gegenübergestellt und bewertet (brevitas vs. Sprachverstümmelung).
Gemeinsam ist fast allen Beiträgen die Thematisierung der Beziehung von Kürze und Ökonomie. Eine Aussage Andreas Gardts mag stellvertretend für andere stehen: 'Eine sprachliche Darstellung kann durchaus von geringem Umfang, sachadäquat und präzise sein, aber zugleich schwer verständlich.' (S. 72). Kürze funktioniert also nur dann, wenn sie vom intendierten Rezipientenkreis als angemessen empfunden und akzeptiert wird und dabei verständlich bleibt.
Der Sammelband wird dem Anliegen der Herausgeber, Anregung zur weiteren Beschäftigung mit dem Phänomen 'sprachliche Kürze' zu sein (S. 5), gerecht. Gerade mit den Beiträgen, die sich mit der sprachlichen Struktur von Kurzformen beschäftigen, zeigt sich aber auch deutlich, dass eine umfassende, systematische (sprachübergreifende) Behandlung der Kürzungsformen noch ein Forschungsdesiderat bleibt.