Deutsches Neologismenwörterbuch
Neue Wörter und Wortbedeutungen in der Gegenwartssprache

Das 'Deutsche Neologismenwörterbuch' enthält 2.284 alphabetisch angeordnete Stichwörter (S. 5). Den 'Methodologischen Hinweisen' (S. 9-11) zufolge ist der Begriff Neologismus ' ohne weitere Erläuterungen ' 'bewusst weit gefasst' (S. 9). Aufnahmekriterien sind die starke Zunahme zwischen den Jahren 2000 und 2006 im Vergleich zum Zeitraum von 1995 bis 1999 sowie eine Mindestbelegzahl im Jahr der maximalen Häufigkeit. Als Datengrundlage dienen Zeitungstexte, die für das an der Universität Leipzig am Institut für Informatik situierte Projekt 'Deutscher Wortschatz' ausgewertet wurden. Ausgeschlossen sind Eigennamen(-verbindungen), 'Titel [...] wie Hotelerbin [...]' (S. 10), weibliche Formen bekannter Titel und Regionalismen.
In den Benutzungshinweisen (S. 7f.) werden Kurzinformationen zum Artikelaufbau gegeben, der maximal aus Stichwort, Sachgebietsangabe, alternativen Schreibweisen, Kurzdefinition, Häufigkeitsdiagramm, Beschreibungstext und Belegbeispielen besteht. Daneben gibt es Verweisartikel auf verwandte Stichwörter oder Themenkästen, beispielsweise zu Doping, Internet, Terrorismus und UMTS.
Laut Buchrücken gehören Sprachwissenschaftler, Sprachpraktiker und allgemein an sprachlichen Entwicklungen interessierte Leser zum intendierten Benutzerkreis.
Das Vorwort gibt kurze Informationen zur Notwendigkeit, neue Wörter in die Alltagssprache aufzunehmen, die laut Autorenteam in fünf Gruppen eingeteilt werden können: 1. völlig neu wie Pfandgegner, 2. in die Alltagssprache übernommener Spezialwortschatz wie Businessplan, Vogelgrippe und Gamer, 3. schon lange in der Alltagssprache bekannte Wörter, deren Häufigkeit ohne Anlass signifikant zugenommen hat wie gefühlt, 4. schon lange in der Alltagssprache bekannte Wörter, deren Häufigkeit anlassgebunden, 'wegen einer technischen Umstellung' (S. 5) signifikant zugenommen hat wie Getrennt- und Zusammenschreibung, 5. Wörter mit neuen Bedeutungen, die die alten übertreffen wie Kurzmitteilung.
Da sie sich in wesentlichen Elementen von anderen Wörterbuchartikeln unterscheiden, werden exemplarisch die Artikel 'pfandfrei' (S. 454) und 'Wellness' (S. 658) vorgestellt: Auf das fettgedruckte Lemma folgt die Angabe des Sachgebiets (Wirtschaft bzw. Gesundheit). Grammatische Informationen wie Wortartenzugehörigkeit, Hinweise zur Flexion oder zur Aussprache im Fall von fremdsprachlichen Lexemen gibt es nicht. Die Kurzdefinition lautet 'Ausgenommen von der neu eingeführten Pfandpflicht.' bzw. 'Ganzheitliches Gesundheitskonzept insbesondere zur Steigerung des Wohlbefindens.' Es folgt das Häufigkeitsdiagramm. Rechts neben dem Diagramm wird das Jahr der häufigsten Verwendung im Korpus genannt, darunter findet sich die Gesamtzahl der ausgewerteten Belege (2003 und 265 Gesamtbelege bzw. 2004 und 3682 Gesamtbelege). Die Belegzahlen spiegeln sich in der Breite der Diagrammsäulen wider. Bei 'pfandfrei' erscheinen die ersten Belege 2000, 2001 nehmen sie zu, 2002 scheinen sie minimal abzunehmen. Nach dem Höhepunkt 2003, der mit dem Jahr der Neuregelung zusammenfällt, werden die Belege weniger, und auch 2006 steigen sie trotz der Änderung der Verpackungsordnung nicht mehr an. 'Wellness' ist bereits 1995 nachweisbar, die 1996er Säule zeigt einen Anstieg, 1997 sind die Nachweise verschwindend gering, nach 1998 ist mit einem leichten Einbruch 2003 ein Anstieg zu verzeichnen. 2005 gibt es dann etwas weniger, 2006 deutlich weniger Belege. Bekanntermaßen sind weder 'pfandfrei' noch 'Wellness' aus dem Wortschatz verschwunden (genauso wenig wie etwa 'Praxisgebühr', das nach dem Häufigkeitsdiagramm ab 2003 nachweisbar ist, seinen Maximalwert mit der Einführung derselben im Jahr 2004 erreicht und dann wieder sehr stark abnimmt). Der Beschreibungstext zu 'pfandfrei' lautet folgendermaßen: 'Seit der Neuregelung des Pfandsystems 2003 sind Verpackungen für Milch, Wein, Sekt und Spirituosen pfandfrei. Mit der dritten Änderung der Verpackungsordnung 2006 wurden Spirituosen, insbesondere die so genannten Alkopops nun ebenfalls pfandpflichtig. Das neue Pfandsystem wurde viel diskutiert und fand bei der Getränkeindustrie wenig Zuspruch.' (mit Verweiszeichen auf die Artikel 'Pfandsystem', 'Alkopops' und 'pfandpflichtig'). Nur ein Zeitgenosse weiß noch, dass Verpackungen (Glas ausgenommen) für Milch, Wein, Sekt und Spirituosen auch vor 2003 pfandfrei waren. Auch wenn die Beschreibungen aufgrund des beschränkten Raumes knapp sein müssen, dürfen sie nicht unpräzise sein. Schließlich sollte das Wörterbuch auch für spätere Benutzer verständlich bleiben, die allein auf die Darstellungen im Wörterbuch angewiesen sind und nicht auf ihr Weltwissen zurückgreifen können. Die Beschreibung von 'Wellness' lautet: 'Die Menschen empfinden ihren Alltag zunehmend als stressig, weshalb Entspannung und Gesundheit einen immer höheren Stellenwert einnehmen. Wellness soll Fitness und Entspannung vereinen und für Ausgleich sorgen. Sie kann vieles beinhalten: Von Massagen, einem Gang in die Sauna, Gesichtsmasken, leichter und bekömmlicher Ernährung bis hin zu Yoga.' Die auf alle Beschreibungen folgenden Belegbeispiele sind laut den methodologischen Hinweisen (S. 10) überwiegend aus dem Internet.
Aus den im Vorwort genannten Gruppen, den Häufigkeitsdiagrammen im Artikelteil, die den Verwendungszeitraum von 1995 bis 2006 verzeichnen, sowie der Art des Korpus lässt sich für den Neologismus-Begriff schließen, dass einerseits die Grenze zu den Ad-hoc-Bildungen fließend sein kann, dass andererseits Wörter als Neologismen kategorisiert werden, die aufgrund ihres Erscheinens in anderen Wörterbüchern nicht unbedingt als 'neu' ausgezeichnet würden. Da der Terminus unterschiedlich definiert ist, zum Teil auch synonym mit Ad-hoc-Bildungen verwendet wird, hätte sich zumindest der Wissenschaftler als Leser an dieser Stelle eine deutlichere Festlegung gewünscht.
Die Aufnahme eines Stichwortes in das 'Deutsche Neologismenwörterbuch' aufgrund einer Bedeutungsveränderung ist, wie auch in den 'Methodologischen Hinweisen' vermerkt (S. 9), schwierig. Das zeigt sich dann auch in einigen Artikeln: Man mag sich etwa fragen, ob das Lexem 'Schuhwahl' die in der Kurzdefinition angegebene Bedeutung 'Disput um die Wahl der Fußballschuhe' (S. 519), die in den Jahren 2003 und 2006 insgesamt 111-mal belegt ist, überhaupt trägt: In dem Beispielsatz 'Als Nationalspieler Michael Ballack in der WELT am SONNTAG nun anmerkte, es sei an der Zeit, auch in der DFB-Auswahl die freie Schuhwahl einzuführen, stach er damit in ein Wespennest.' ist die Bedeutung aus den beiden unmittelbaren Konstituenten als 'Wahl der Schuhe', vergleichbar mit 'Präsidentenwahl', 'Berufswahl' usw., erschließbar. Die Wortbedeutung beinhaltet nicht den Disput. Bei 'Putenfleisch' (S. 475) wird die Kurzdefinition 'Fleisch des Truthuhns' genannt. Das ist keine neue Bedeutung, sondern die konventionelle. Dass 'Putenfleisch' aufgrund verschiedener Fleischskandale in einem neuen Kontext erscheint, ist keine Information, aufgrund derer der Wortbildung Stichwortstatus zugewiesen werden kann.
In mehreren Artikeln sind an unterschiedlichen Stellen Ungenauigkeiten zu verzeichnen: So ist beispielsweise die Abkürzung 'ABM' (Anti-Ballistic Missiles) in 'ABM-Vertrag' (S. 16), die sicherlich nicht (mehr) jedermann bekannt ist, nicht aufgelöst, wohingegen etwa 'HD-DVD' (S. 299), 'PSA' (S. 474), 'P' in 'P-System' (S. 474), 'Q' in 'Q-Fieber' (S. 475) und 'Sars' (S. 510) aufgelöst werden. Die Langform hat keine einheitliche Position. Sie ersetzt die Kurzdefinition oder erscheint in der längeren Beschreibung. 'LCD' in 'LCD-Fernseher' wiederum ist nicht aufgelöst (S. 381), im Artikel 'Flachbildfernseher' (S. 222), auf den verwiesen wird, ebenso wenig wie in dem Artikel 'Plasmafernseher' (S. 461), auf den im Artikel 'Flachbildfernseher' ein Verweis erfolgt. Der Artikel 'Plasmafernseher' schließlich besteht nur aus dem Lemma, der Häufigkeitstabelle mit Beschriftung, Belegbeispielen und einem Verweis auf 'Flachbildfernseher'. 'Kitagebühr' wird kurz mit 'Gebühr für einen Kindergartenplatz' erläutert, wobei 'Kita' eine Abkürzung für 'Kindertagesstätte' und nicht für 'Kindergarten' ist. In der ausführlichen Beschreibung hingegen wird der Terminus 'Kindertagesstätte' verwendet und auch zur Abkürzung in Beziehung gesetzt (S. 355).
Positiv ist zu bewerten, dass das Wörterbuch innovativen Sprachgebrauch in einem Zeitraum von sieben Jahren, zwischen 2000 und 2006, widerspiegelt. Der Wortschatz ist durch die Zusammenstellung des Korpus aus (Online-)Zeitungstexten sehr aktuell, anders als bei Textgrundlagen, die eine längere Vorlaufzeit bis zum Druck haben. Es ist aber fraglich, ob Wörter, die vielleicht nur während weniger Monate eines Jahres in journalistischen Texten verwendet worden sind und deren Bedeutung sich aufgrund von Analogie aus den beiden unmittelbaren Konstituenten erschließen lässt, schon Berechtigung haben, als Lemmata in ein Wörterbuch aufgenommen zu werden wie 'Schuhwahl'. Generell ist bedauerlich, dass die einleitenden Ausführungen so knapp gehalten sind. Einige der angeführten Kritikpunkte wären sicherlich zu relativieren, wenn diese Informationen ausführlicher und weniger vage formuliert wären.