Deutsche Russlandbilder im 20. und 21. Jahrhundert

Der Osten Europas ist auch fünf Jahre nach der Erweiterung der EU für viele westeuropäische Betrachter und Betrachterinnen ein weites und größtenteils unbekanntes Feld. Entsprechend viel Raum eröffnet sich für die fortwährende Tradierung stereotyper Selbst- und Fremdbeschreibungen, die in der Breite der Bevölkerung nach wie vor wirksam sind. In besonderem Maße gilt dies für Russland, das traditionellerweise als Gravitationszentrum der zwischen Feindbild und Traumland changierenden westlichen Bilder 'des Ostens' fungiert. In jüngster Zeit wurde dies noch einmal durch eine Forsa-Umfrage belegt, bei der anlässlich der Eröffnung der Ausstellung 'Unsere Russen ' Unsere Deutschen' rund 1.000 Deutsche Auskunft über ihre Vorstellungen vom heutigen Russland gaben. So stimmten 55% der Befragten der Aussage zu, dass sich 'die Russen' durch Staatsgläubigkeit auszeichnen, 65% assoziierten 'Russland' mit Willkür, während der Begriff 'Freiheit' nur von 19% der Teilnehmer zum Profil des Landes gezählt wurde (URL: http://www.unsererussen.de/fileadmin/Presse_PDF/2007/Charts_PK_Druckversion.pdf [21.01.2009]).
Angesichts dieser Langlebigkeit bestimmter Bilder des 'Eigenen' und des 'Fremden' wird auch deren Erforschung weiterhin eine zentrale Bedeutung zukommen. Einen Beitrag hierzu leistet das erste 2008 erschienene Heft des vom Zentralinstitut für Mittel- und Osteuropastudien der katholischen Universität Eichstätt herausgegebenen 'Forums für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte'; es ist dem Thema 'Deutsche Russlandbilder im 20. und 21. Jahrhundert' gewidmet und geht auf eine gleichnamige Konferenz im Sommer 2007 zurück.
Die Beiträge des Bandes weisen eine große Heterogenität auf. So untersucht Alexei Rybakov aus literaturwissenschaftlicher Sicht die Bedeutung Russlands in den Werken von Rainer Maria Rilke und Thomas Mann. Bei beiden Autoren erweist sich das Land hierbei als Projektionsfläche für die Suche nach Werten wie Ursprünglichkeit, Religiosität oder Langsamkeit. Die 'russische Seele' wird als Gegenentwurf zum durch Materialismus und Äußerlichkeit geprägten Westen imaginiert, weshalb Rybakov Rilke und Mann zu recht als symptomatisch für eine deutsche Russopholie am Beginn des 20. Jahrhunderts einordnet.  
Der folgende Beitrag von John Andreas Fuchs thematisiert aus einer geschichtswissenschaftlichen Perspektive die Reaktionen der deutschen Politik und Presse auf den 'roten Oktober' 1917. In einem chronologischen Längsschnitt beleuchtet er Wandel und Kontinuitäten zwischen Februar und Oktober dieses Jahres; als Konstante lässt sich die mit den Umstürzen in Russland verbundene Hoffnung auf eine Schwächung des militärischen Kontrahenten und hieraus folgernde eigene Vorteile ausmachen, während die politische Einschätzung von anfänglicher Sympathie zunehmend in eine Furcht vor einem Übergreifen der Revolution auf Westeuropa umschlug. So interessant diese Entwicklungen sind, bleibt mit Blick auf das Rahmenthema des Heftes doch anzumerken, dass hier weniger Russlandbilder als vielmehr Reaktionen und Strategien untersucht werden.
Aleskandr Vatlin geht auf der Basis von zeitgenössischen Ego-Dokumenten und rückblickenden Erinnerungen der Frage nach, welche Russlandbilder kommunistische deutsche Emigranten mit sich trugen, die in den zwanziger Jahren in die Sowjetunion als dem Land einer vermeintlich besseren Zukunft aufbrachen. Vatlin zeigt überzeugend, welch frappierende Langlebigkeit die bereits vor der Auswanderung ausgeprägten idealisierten Vorstellungen von Sowjetrussland trotz aller vor Ort am eigenen Leib erfahrenen Repressionen hatten. Die Entbehrungen des Alltags, eine immer bedrückender werdende Überwachung und die in nicht wenigen Fällen verhängte Lagerhaft bis hin zur Ermordung führten nicht zu einem grundsätzlichen Bruch mit dem System. Man hielt an der einmal entwickelten Utopie fest, da alles andere zugleich ein fundamentales Hinterfragen der eigenen Biographie bedeutet hätte.
Die abschließenden beiden Beiträge des Themenschwerpunkts stammen von Andreas Hilger und Wiebke Bachmann. Hilger, der sich mit grundlegenden Arbeiten einen Namen als Experte für die Geschichte deutscher Kriegsgefangener in der Sowjetunion gemacht hat, widmet sich dem Russlandbild deutscher Kriegsheimkehrer. Er unterstreicht nachdrücklich den unauflösbaren Zusammenhang des Themas mit dem vorhergehenden Vernichtungskrieg deutscher Truppen: Sowohl in dieser Phase als auch in der retrospektiven Beschreibung der eigenen Gefangenschaft seien die Narrative von einem Fortwirken der weit zurückreichenden Idee eines von West nach Ost verlaufenden Kulturgefälles geprägt gewesen. Unabhängig vom Dienstgrad oder der sozialen Herkunft betrachtete man sich als Träger einer 'höheren Zivilisation', was zugleich die Unfähigkeit zur Selbstkritik beinhaltete.
Wiebke Bachmanns Beitrag bietet eine Analyse deutscher Medienberichterstattung über die Regierungszeiten Gorbačevs, El'cins und Putins. Basierend auf einer Auswertung des 'Spiegel' sowie der 'Frankfurter Allgemeinen Zeitung' bestätigt sich hierbei zum einen das zu erwartende Bild eines anfänglich schon euphorische Züge annehmenden Tenors über die Reformen Gorbačevs bis hin zur heute dominierenden sehr kritischen Darstellung der Putin-Jahre. Zugleich kann Bachmann aber auch aufzeigen, in welch hohem Maß die Urteile beider Publikationen von unreflektierten westeuropäischen Maßstäben geleitet sind; Kategorien wie die 'Werte abendländischer Zivilisation' (Der Spiegel, 9.2.1995), 'Modernisierung' (FAZ, 10.1.2000) oder 'Potemkinsche Demokratie' (Der Spiegel, 1.12.2003) zeugen davon, wie stark 'das Fremde' nach wie vor vom Bild 'des Eigenen' bestimmt wird.
Zusätzlich zu diesem Themenschwerpunkt bietet der Band eine Analyse der Lyrik Osip Mandel'¨tams zur Zeit des stalinistischen Terrors von Christa Ebert, in der Rubrik 'Eichstätter Vorträge' den anlässlich der Gedenkfeier für Karl Graf Ballestrem gehaltenen Vortrag des Politologen Bernhard Sutor über 'Katholische Kirche und Menschenrechte' sowie zwei kommentierte Dokumente zum Oktober 1917 und dem nachfolgenden Bürgerkrieg. Abgerundet durch Rezensionen sowie eine Entgegnung von Leonid Luks auf die Thesen der amerikanischen Kulturkritikerin Naomi Wolf zur Vergleichbarkeit der US-Regierung unter George W. Bush mit NS-Deutschland hat das 'Forum' damit interessante Anstöße für weitere Untersuchungen zum sicherlich auch zukünftig aktuell bleibenden Thema west-östlicher Stereotypen geleistet.