Die Leibniz-Edition der Berlin-Brandenburgischen und Göttinger Akademie der Wissenschaften bedarf keiner großen Vorstellung. Seit den 1930er Jahren sind mittlerweile mehrere Generationen von Mitarbeitern verschiedener Arbeitsstellen damit beschäftigt, die Berge von Dokumenten, die Gottfried Wilhelm Leibniz hinterlassen hat und die durch einen einzigartigen Zufall überliefert wurden, zu sortieren und zu publizieren. Acht Reihen umfasst die Leibniz Ausgabe, davon sind allein drei Reihen dem Briefwechsel gewidmet (I. Allgemeiner, politischer und historischer Briefwechsel, II. Philosophischer Briefwechsel, III. Mathematischer, naturwissenschaftlicher und technischer Briefwechsel). Die Korrespondenzen der ersten Reihe, deren zwanzigster Band hier anzuzeigen ist, bieten zweifellos die größte Themenvielfalt und den besten Einblick in Leibniz' Vernetzung innerhalb der europäischen Gelehrtenrepublik.
Über die Qualität der Edition muss kein Wort verloren werden: Der Band enthält 495 Stücke, von denen 358 erstmals nach den Handschriften ediert werden. Auch für die bereits an anderer Stelle publizierten Briefe wurde, bis auf wenige Ausnahmen, erneut auf die Handschriften zurückgegriffen. Ausführlich und kenntnisreich werden die einzelnen Texte eingeführt und die relevanten Textstellen kommentiert, in der Korrespondenz angesprochene Personen und Bücher identifiziert. Die Briefe werden durch ein Korrespondenten- und Schriftenverzeichnis, durch ein Register der Absendeorte, sowie durch ein Personen- und Sachregister erschlossen. Aufgeteilt sind die Briefe in Angelegenheiten des Hauses Braunschweig-Lüneburg (Nr. 1'132) und den allgemeinen Briefwechsel (Nr. 133'495).
Das Spektrum der in den Korrespondenzen angesprochenen Themen reicht von den verschiedenen Angelegenheiten des Hauses Hannover, dem Leibniz als Geheimer Rat diente, über die scheiternde Diskussion mit Bossuet über die Reunion der Konfessionen, über Verhandlungen in Berlin über die Akademie der Wissenschaften, über den Dialog mit der Königin Sophie Charlotte und ihrer Mutter, Kurfürstin Sophie von Hannover, über theologisch-philosophische Themen, über die politische Situation Europas ' Ausbruch des Spanischen und des Nordischen Krieges ' bis hin zu allgemein historischen Fragen, etwa zur antiken Numismatik (vgl. z.B. Nr. 190, 197). Einen ersten Einblick dies Vielfalt der Themen gibt die Einleitung der Bearbeiter, Malte-Rudolf Babin, Gerd van den Heuvel und Rita Widmaier.
Der Charakter des allgemeinen Briefwechsels sei exemplarisch an einem Brief illustriert, etwa an dem von Leibniz vom 27. Februar 1702 (Nr. 467) an Thomas Burnett of Kemney, einen schottischen Homme de lettres, der sich 1701 auf eine Reise nach Paris begeben hatte, und mit dem Leibniz bereits seit einigen Jahren korrespondierte. Leibniz greift Gegenstände auf, die Burnett in früheren Briefen angeschnitten hatte (Nr. 247, 382). Eines der zentralen Themen des Briefes ist, neben Bemerkungen über die politische Lage Europa am Beginn des Spanischen Erbfolgekrieges und den für gelehrte Briefwechsel charakteristischen Berichten und Kommentaren zu Neuerscheinungen und Buchprojekten aller Fachgebiete (bes. Theologie und Geschichte), der Philosoph und Freidenker John Toland, den sowohl Burnett als auch Leibniz persönlich kannten.
Leibniz berichtet über Tolands Gespräche am Hof mit der Kurfürstin Sophie, die seine Ansichten nicht teilt ' wie auch Leibniz ('ses [Toland] sentiments vont trop loin'), aber, so ergänzt Leibniz 'elle aime la conversation des gens d'esprit' (809). Leibniz hingegen hat Toland einen schriftlichen Kommentar zu seinem deistischen Hauptwerk 'Christianity not mysterious' (1697) überreicht. Dass Toland auch in Hannover nicht unumstritten ist, verschweigt Leibniz nicht. Abschließend beauftragt Leibniz Burnett Grüße an Angehörige der Gelehrtenrepublik auszurichten. Diese hatten für Burnett zugleich die Funktion von Empfehlungsschreiben, die ihm Zutritt in die gelehrten Zirkel von Paris eröffneten. Man könnte all dies für 'Fußnoten' zur Biographie Leibniz' halten, doch in ihrer Gesamtheit fügen sich diese Details wie die Stücke eines Mosaiks zu einem großen Bild, auf dem nicht nur Leibniz abgebildet ist, sondern auch die Gelehrtenrepublik des späten 17. Jahrhunderts, mitsamt ihren Büchern und Themen.
So ermöglicht der Briefwechsel nicht nur einen Blick auf den großen Denker Leibniz, sondern weist auf Persönlichkeiten hin, die zu Leibniz' Zeiten durchaus größere Achtung genossen als er selbst (etwa der in brandenburgischen Diensten stehende Diplomat und homme des lettres Ezechiel Spanheim [Nr. 391]), die aber von der Nachwelt vergessen wurden, nicht zuletzt weil ihre Papiere nicht in einem auch nur annähernd mit Leibniz vergleichbaren Umfang überliefert wurden. Aber eben weil dieser Briefwechsel mehr zu bieten hat als 'nur' Informationen über Leibniz, gibt es kein besseres Argument für diese Quellenedition als eine solche Erweiterung der Perspektive.