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Fünf Dekaden - fünf Bücher von Edgar Wolfrum

Der Heidelberger Zeithistoriker Edgar Wolfrum schließt mit dem im vergangenen Jahr erschienenen fünften Band eine in schneller Folge aufgelegte Reihe zu einer 'visuellen Zeitgeschichte' der Bundesrepublik ab. Auf je ca. 150 Seiten werden in vier Hauptkapitel gegliedert die wichtigsten Weichenstellungen zwischen 1945 und der Jahrtausendwende vorgestellt: Innenpolitik, Außenpolitik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur bilden die thematischen Blöcke. Die Kapitel werden durch fünf bis siebensseitige Essays eingeleitet, in denen Wolfrum die für das jeweilige Thema entscheidenden Entwicklungen skizziert. Dann folgen 20 bis 30 Fotografien, die durch ausführliche Bildunterschriften ergänzt werden. Die Bildmotive stammen allesamt aus dem Bestand der 'dpa Picture-Alliance GmbH', einer der weltweit größten kommerziellen Bilddatenbanken.
Eingeleitet werden die Bände durch eine kurze Erläuterung, was unter 'visueller Zeitgeschichte' verstanden wird. Dabei bemerkt Wolfrum zu Recht, dass die Vergegenwärtigung von Geschichte oftmals über Bilder geschieht. Bestimmte Ereignisse oder Zeitabschnitte sind untrennbar mit bestimmten Motiven verbunden: Der Kniefall Willy Brandts in Warschau oder die brennenden Zwillingstürme des World Trade Centers in New York sind Beispiele dafür. Es gibt Ereignisse, die ohne Betrachtung ihrer visuellen Überlieferung kaum verstanden werden können. Wolfrum erwähnt das berühmte Beispiel der amerikanischen Präsidentschaftswahl 1960. Im Fernsehduell begegnen sich Richard Nixon und John F. Kennedy. Der biedere, schwitzende Nixon hatte gegen den jugendlichen und attraktiven Kennedy keine Chance. Jenseits der politischen Argumente entschied hier der visuelle Eindruck und zugleich war es ein Beleg für die Macht des Fernsehens. Es geht Wolfrum darum, mit den vorliegenden Bänden Bildmedien, hier Fotografien, als Quellen ernst zu nehmen und sie dem Status bloßer Illustrationen zu entheben.
Die Texte fassen knapp und präzise den Stand der Forschung zum jeweiligen Jahrzehnt zusammen. Trotz der Kürze bieten sie differenzierte und pointierte Einschätzungen. Der ambivalente Charakter der fünfziger Jahre, zwischen Rückwärts- oder Abgewandtheit und ökonomischer Modernisierung wird hervorgehoben. Das Jahrzehnt, das vor allem durch das 'Wirtschaftswunder' im Gedächtnis bleiben sollte, war auch eine Zeit scharfer gesellschaftlicher Konflikte. Die Auseinandersetzung um die atomare Bewaffnung der Bundeswehr ist ein Beispiel dafür. Die kritischen Schriftsteller der 'Gruppe 47' stehen für ein ungeduldiges Bestreben nach gesellschaftlicher Modernisierung und Wahrhaftigkeit, die in die Millionen gehenden Besucherzahlen harmloser Heimatfilme sprechen für das Gegenteil. Die sechziger Jahre sind das Jahrzehnt dynamischen Wandels auf fast allen politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Ebenen. Die konservative Hegemonie des Jahrzehnts zuvor wurde nach und nach durchbrochen, einer weit reichenden Liberalisierung der Weg bereitet. So wie für die ersten beiden Nachkriegsjahrzehnte durch einen mittlerweile reichhaltigen Forschungsstand differenzierte Deutungen vorhanden sind, so unübersichtlicher wird es, je näher man der Gegenwart nahe kommt: Die 1970er Jahre werden mit 'Republik im Aufbruch' betitelt. Die sechziger waren dies auch: was ist nun das spezifische Charakteristikum der Siebziger? Die Bundesrepublik gewinnt außenpolitisches Renommee, wird sogar zum Stabilitätsanker in einer nicht mehr krisenfesten Weltwirtschaft, gleichzeitig erlahmt der reformerische Impuls der späten sechziger und frühen siebziger Jahre und der Terrorismus der RAF fordert die westdeutsche Demokratie heraus. Die 1980er finden sich zwischen 'Globalisierung und Postmoderne', so der Untertitel des Bandes. Auch sie haben kein spezifisches Signum. Die politische konservative Wende findet auf der 'geistig-moralischen' Ebene keine Entsprechung. Wolfrum führt den im Ergebnis zugunsten der gegen eine Relativierung der nationalsozialistischen Verbrechen eintretenden Historiker entschiedenen Historikerstreit als Beispiel an. Die 1980er schienen ein Jahrzehnt ohne Thema, oszillierend zwischen Uwe Barschel und Joschka Fischer, zwischen New Wave, neuer deutscher Welle und Poppern. Bis am Ende des Jahrzehnts der die Mauer in Berlin fällt. Das Titelbild bleibt trotzdem Boris Becker vorbehalten. Die 90er Jahre schließlich sind der Wiedervereinigung und einer zunehmend unübersichtlichen Weltordnung gewidmet, in der das vereinigte Deutschland seinen Platz finden musste. Schließlich muss die 1998 gewählte rot-grüne Regierung sich diesem Thema intensiver widmen, zugleich beginnt wieder eine Phase gesellschaftlicher Modernisierungen.
Die ausgewählten Bilder sollen Brüche und Wendepunkte des jeweiligen Jahrzehnts markieren. Dabei wird auch auf bekannte Fotos zurückgegriffen, die (noch) weithin bekannt, fast ohne Erläuterung auskommen: Der in Warschau kniende Willy Brandt, der sterbende Benno Ohnesorg, das Foto Adolf Eichmanns auf der Anklagebank in Jerusalem, um einige Bespiele zu nennen. Den größten Teil machen aber unbekannte Bilder aus, die die politische, ökonomische und kulturelle Entwicklung der Bundesrepublik zeigen sollen. Hier werden einige schöne Fundstücke präsentiert, die in der Visualisierung ihrer Botschaft eben über die Möglichkeit einer narrativen Erklärung hinausreichen. So wird der Irrsinn der deutschen Teilung an einem Foto eines Kiosks in Westberlin gezeigt, der allerdings nur aus Ostberlin betreten werden konnte (Bd. 1, S. 50). Ein missglückter Versuch Heinrich Lübkes die verfeindeten Präsidenten der USA und Frankreichs zu einem Händedruck zu bewegen, wirft ein Schlaglicht auf das belastete Verhältnis beider Länder in den sechziger Jahren (Bd. 2, S. 61), eine schreiend bunte Bravo mit ABBA auf dem Titel verdeutlicht besser als jeder Text, was die 1970er in ästhetischer Hinsicht vom Vorgängerjahrzehnt trennt.
Die fünf Bände sollen der akademischen Lehre dienen, sind aber mehr noch an ein historisch interessiertes Laienpublikum gerichtet. Diese erhalten hervorragend geschriebene zeitgeschichtliche Essays, präzise recherchierte, sehr ausführliche Bildunterschriften und eine breite Auswahl zumeist unbekannter Fotos, die fünf Jahrzehnte deutscher Geschichte zeigen. Dies ist schon einmal eine beträchtliche Leistung, Vergleichbares gab es bislang nicht. Dem hohen Anspruch einer visuellen Zeitgeschichte werden die Bänder allerdings kaum gerecht. Zunächst ist zu fragen, warum die Bildauswahl auf den Bestand der dpa beschränkt wurde. Dies wird nicht begründet, klar ist nur, dass eine Vielzahl fotografischer Ausdrucksformen und möglicher Motive keine Aufnahme in die Publikationen finden konnten. Wird das Signum der visuellen Zeitgeschichte ernst genommen, dann müssen jene fotografischen bzw. visuellen Bilder gezeigt werden, die für einen bestimmten Kontext stehen und vor oder gegen alle Texte den historischen Blick auf diesen Kontext beeinflussen: Das Foto von Kim Phuc, die schreiend und nackt nach einem Napalmangriff flieht, ist zum Beispiel ein solches Motiv, das auch in Deutschland eine beträchtliche Wirkung entfachte und den Blick auf den Vietnamkrieg veränderte. Im Rahmen einer visuellen Zeitgeschichte müssen also auch Bilder identifiziert und gezeigt werden, die nachweislich wirkungsmächtig waren und sind. Texte und Bilder sind oft nicht wirklich aufeinander bezogen, so dass die Bilder doch häufig eher illustrativen Charakter haben. Schließlich fehlt eine Beschäftigung mit dem Medium selbst: Ohne eine Mindestmaß an vorikonografischen und ikonografischen Erläuterungen können viele Bilder nicht verstanden werden. Nicht in allen, aber in vielen Fällen ist es wichtig zu wissen: In welchem Kontext ist das Bild entstanden? Um welche Art von Fotografie handelt es sich? Wer ist der Fotograf? Und so weiter. Es besteht sonst die Gefahr, dass Fotos als unverfälschte Abbildungen vergangener Realitäten gesehen werden, das können sie aber nur in eingeschränkter Weise sein. Die Grenzen des Mediums Fotografie als historische Quelle an konkreten Bildern auch kenntlich zu machen, muss ein untrennbarer Teil einer visuellen Zeitgeschichte sein.
Aber es gilt, die Kritik auch nicht zu übertreiben. Schließlich werden Bilder als Quellen hier ernst genommen und die historisch interessierten Leser der Reihe erhalten eine spannend geschriebene dem Stand der Forschung entsprechende Geschichte der Bundesrepublik mit vielen bislang kaum publizierten Fotografien.