Die literarische Visualitätsforschung hat sich jüngst zum Projekt einer umfassenden 'Visualitätskritik' (Stefan Horlacher) ausgeweitet, deren Feld von einer kognitiven Poetik der Visualisierung bei der Lektüre bis hin zur kriegerischen oder dromologischen Herkunft der visuellen Medien reicht. Vor diesem Hintergrund erscheint Sandra Poppes Studie, die aus ihrer Dissertation hervorgegangen ist, nicht nur als eine Rückkehr zu den intermedialen Anfängen der literaturwissenschaftlichen Beschäftigung mit Visualität, sondern auch als Rückzug auf ihren Kernbereich der 'schriftsprachliche[n] Darstellung visueller Wahrnehmung' (S. 31).
Die vorliegende Arbeit widmet sich daher zum einen der direkten Thematisierung oder inhaltlichen Verarbeitung visueller Wahrnehmung und optischer Sehmedien, zum anderen den textuellen Verfahren oder formalen Strategien visuellen Schreibens (und filmischer Visualität). Die wesentliche Innovation besteht dabei darin, daß sie Formen der Visualität, die Literatur und Film gemeinsam sind, nicht mehr im Bereich der Narrativität sucht, die weithin als transmediales Bindeglied zwischen literarischem Text und filmischer Transformation gilt; an deren Stelle tritt hier die Beschreibung, die bildliche Darstellung der fiktionalen Welt, das Zeigen von Räumen, Figuren und Objekten als 'maßgebliche[r] Gemeinsamkeit von Text und Film' (S. 313).
Von 'visuellen Beschreibungen' wird hier verlangt, daß sie neben bloßer Anschaulichkeit eine semantische oder strukturierende Funktion für den jeweiligen Text besitzen. Mit dieser Forderung wird die Vergleichbarkeit literarischer und filmischer Visualität begründet, die sich in ihren darstellerischen Mitteln, also als Medien, radikal unterscheiden, jedoch analoge Semantisierungen erlauben (S. 216, 283, 307, 310, 313 et pass.). Darüberhinaus erlaubt das Insistieren auf einer semantischen Funktion auch eine Abgrenzung von 'mimetisch-anschaulichen' (S. 32) Formen der Visualität. Diese Differenz zur 'realistischen' Visualität bleibt leider weitgehend implizit (S. 60-61), womit Poppe die stiefmütterliche Behandlung des Realitätseffekts fortsetzt, die Horlacher in seiner Dissertation eingeführt hatte, in der er lediglich kurz auf Barthes' 'effet du [sic!] réel' hinweist, ohne auch nur den (fast) gleichnamigen Aufsatz in sein Literaturverzeichnis aufzunehmen.
Semantisierten Beschreibungen sowie Thematisierungen (medialer) Wahrnehmung spürt das Buch in drei kenntnisreichen Kapiteln über moderne Erzähltexte und ihre Verfilmungen nach: Prousts 'Le temps retrouvé' und dessen analoge Transformation durch Raoul Ruiz, Kafkas 'Der Prozeß' und dessen interpretierende Transformation durch Orson Welles und Conrads 'Heart of Darkness' und dessen freie Transformation durch Francis Ford Coppola ('Apocalypse Now'). Dabei stehen verschiedene, für das jeweilige literarisch-filmische Doppel relevante Aspekte von Visualität im Mittelpunkt, von der Visualisierung der Zeit bis hin zum Leitmotiv der Dunkelheit. Getragen von der Hypothese gleicher Funktion trotz medialer Differenz und befördert durch den Verzicht auf Abbildungen wird die Darstellung von Visualität in Text und (beschriebenem) Bild vergleichend herausgearbeitet.
Etwas unverständlich bleibt dabei allenfalls, warum die Frage nach filmischen Schreibweisen aus diesem intermedialen Vergleich ausgeschlossen bleibt (S. 26), zumal die Autorin im Fazit den mehr oder weniger filmischen Charakter der literarischen Texte vermerkt, sodaß 'die Vermutung nahe[liegt], daß die einzelnen Transformationstypen auch vom Vorlagentext und dessen visueller Struktur begünstigt sind' (S. 312).