Paul de Lagarde (1827-1891) erlangte bis zum Ende des 2. Weltkriegs zweifelhaften Ruhm als eine der zentralen Figuren des Antisemitismus. Ulrich Sieg hat es in seiner Biographie 'Deutschlands Prophet. Paul de Lagarde und die Ursprünge des modernen Antisemitismus' unternommen, einem Antisemiten und dessen Rezeptionsgeschichte bis hin zum 'Dritten Reich' auf die Spur zu kommen. Es ist eine Wirkungsgeschichte, die nicht zuletzt auf Lagardes Selbststilisierung als glückloser Außenseiter zurückzuführen ist ' ein Bild, das, wie Sieg zeigt, kaum der Realität entsprach.
Das Buch führt den Leser anhand einer chronologischen Ordnung in Lagardes Leben, Werk und Wirkungsgeschichte ein. Dem methodischem Leitmotto von Clifford Geertz 'dichter Beschreibung' folgend, wechseln sich in der Darstellung sozial- und ideengeschichtliche Ansätze mit Werkanalyse und maßvoll gesetzten psychologischen Skizzierungen ab.
Sieg stellt Lagardes Gelehrtenlaufbahn im 19. Jahrhundert mit Blick auf die Strukturen und Erfordernisse der deutschen Wissenschaftswelt dar, mit der aufstrebende Wissenschaftler konfrontiert wurden: Zum einen die Notwendigkeit, sich der Gunst einflussreicher Gutachter und akademischer Lehrer zu versichern; zum anderen der Umgang mit den Instanzen und politische Interessen des preußischen Staates. Lagarde wusste beides für sich zu nutzen und wurde 1869 zum Professor für Orientalistik in Göttingen ernannt.
Der Judenhass, so unterstreicht Sieg immer wieder, war eine Konstante in Lagardes Denken, welches geprägt war von einem im Alter sich zuspitzenden Kulturpessimismus. Seine Weltsicht zentrierte sich um die Forderung einer religiösen Erneuerung der Nation, in der jüdische Identität keinen Platz hatte. Diese keineswegs geschlossene Weltsicht verhalf seiner Schriftensammlung 'Deutsche Schriften' nicht zuletzt dank Lagardes gezielter Leserführung, die Sieg mit Briefkorrespondenzen belegt, zum Erfolg beim Publikum: sich selbst als 'Verschworene der Zukunft' empfindend, wie es in der entsprechenden Kapitelüberschrift der Biographie heißt, machte es Lagarde zu seinem Propheten.
Lagarde genoss in der internationalen Fachwelt einen Ruf als Kenner alter Sprachen und der Wissenschaft des Judentums. Jüdischen Gelehrten und Nachwuchswissenschaftlern trat Lagarde in der Regel extrem kritisch und vorurteilsbelastet gegenüber. Er war 'davon überzeugt, daß die Wahrung jüdischer Identität für einen echten Wissenschaftler unmöglich sei' (S. 232). Auch bei akademischen Auseinandersetzungen verstieg er sich in heftige antisemitische Polemiken. Gleichwohl hinderte ihn das nicht daran, sich bei fachlichem Interesse für einzelne Gelehrte einzusetzen.
Den Drang, seine antijüdische Gesinnung auch öffentlich zur Schau zu tragen, verdeutlicht etwa seine Rolle im Marburger Prozess 1887, in dem er als Gutachter für den der 'öffentlichen Beschimpfung einer staatlich anerkannten Religionsgemeinschaft' angeklagten Volksschullehrer Ferdinand Fenner auftreten sollte. Obgleich er den rassischen Antisemitismus eines Theodor Fritsch nicht ohne weiteres teilte, sondern seinen Judenhass eher geschichtsphilosophisch-religiös fundierte, schrieb er in seinem Gutachten etwa, 'daß Israel nach der Entstehung des Christentums 'jede Existenzberechtigung verloren hat'' (S. 264).
Lagarde war ein unermüdlicher wissenschaftlicher Arbeiter, der jedoch nur schlechtes Augenmaß für die Durchführbarkeit seiner Projekte besaß. Seinen Lebenstraum, eine kritische Ausgabe der Septuaginta, vollendete er nicht ansatzweise. Lediglich ein Band dieses Editionsprojekts stellte Lagarde kurz vor seinem Tod fertig. Für sein wissenschaftliches Scheitern machte er meist andere verantwortlich. Er war von jeher ein streitlustiger Mann. So hielt er sich mit harscher Kritik, z.B. an seinem Vorgänger und frühen Förderer Ewald, selbst nach dessen Tod nicht zurück.
Siegs Biographie zeichnet Lagarde als einen Besessenen, der sehr sparsam mit Selbstkritik war, aber dafür umso mehr seine Wut auf seine Mitmenschen, die moderne Gesellschaft und schließlich den imaginierten Erzfeind seiner romantisierten Nationvorstellung ' die Juden ' projizierte.
Für die wissenschaftliche Arbeit fällt als kleiner Minuspunkt auf, dass das Inhaltsverzeichnis nur in wenige Kapitel mit wenigsagenden Überschriften gegliedert ist, was die Orientierung im Buch erschwert. Insgesamt jedoch ist es Ulrich Sieg gelungen, eine spannend zu lesende Biographie zu schreiben, ohne es an wissenschaftlicher Sorgfalt fehlen zu lassen. Nicht zuletzt durch die ausführliche Behandlung der Rezeption Lagardes bietet sie auch interessante Erkenntnisse für die deutsche Geistesgeschichte.