Accati geht es in der vorliegenden Untersuchung um eine Darstellung und Erklärung der sozialen und ideologischen Voraussetzungen und Folgen der Idealisierung der Madonna/Mutter, die sich im Katholizismus seit Beginn des 15. Jahrhunderts beobachten läßt. Dazu will sie psychoanalytische Modelle für das Verständnis historischer und sozialer Prozesse fruchtbar machen.
Accati zufolge spiegelt die Idealisierung im Bilde der jungfräulichen Madonna (Madonna der Unbefleckten Empfängnis) entscheidende Veränderungen im Verhältnis zwischen Müttern und Söhnen, zwischen der Mutter Kirche und den Geistlichen so gut wie zwischen den Müttern und Söhnen in Familienverhältnissen und in der Verteilung von Machtverhältnissen in der Gesellschaft. Die dem Dogma implizite Elimination des Vaters und die daraus resultierende privilegierte Beziehung zwischen Mutter und Sohn führen zu einem Widerspruch: nämlich einerseits zur Furcht der Söhne vor dem dominierenden und alles verschlingenden Wesen der Mutter, die vom Vater, nämlich dem Vater ohne Autorität, nicht mehr gebändigt werden kann (Ursprung der Misogynie), andererseits aber auch zur unbeherrschbaren Furcht vor dem fernen, von den Söhnen nicht mehr erfahrbaren Vater (Ursprung des Antisemitismus).
Ein Gegenbild zu diesem Fantasma entwirft die Fabel 'La bella e il mostro', die im 17. Jahrhundert aufgezeichnet wurde. Sie stellt den Bräutigam, den zukünftigen Vater, nicht als Bösewicht dar, sondern es geht in der Fabel um den Versuch, zu zeigen, daß die affektiven elementaren Beziehungen trotz der geltenden Normen in ein Gleichgewicht gebracht werden können. Die Fabel zeigt nicht nur, daß die Eheschließung nicht die Opferung der Braut bedeutet, sondern daß sie einen individuellen und sozialen Reifungsprozeß der Braut besiegelt, die nach einem langen und komplizierten Hin und Her zwischen dem Vater und dem 'mostro' die Kraft findet, das 'mostro' in einen schönen Bräutigam und künftigen Vater zu verwandeln, der ihren Bedürfnissen entspricht. So erscheint der Bräutigam als 'mostro' nur in der schwierigen Zeit der adoleszenten Ängste. Die Eheschließung ist in der Fabel ein 'rite de passage' auf dem Weg zum erwachsenen Leben, zu Vaterschaft und Mutterschaft. Als gesellschaftliches Grundelement erscheint in der Fabel die Beziehung zwischen Vater und Mutter.
Im 15. und 16. Jahrhundert können wir das starke politische Konfliktpotential beobachten, das in der Widersprüchlichkeit dieser beiden Hypothesen über die Fundamente der Gesellschaft steckt. Diese Debatten dienen als Legitimationsfolie für gesellschaftliche und politische Praktiken.
Durch das Konzil von Trient wird die mit Reformation und Gegenreformation begonnene Spaltung der europäischen Christenheit besiegelt. Im katholischen Europa wird die Mutter-Sohn-Beziehung gegenüber der Vater-Mutter-Beziehung dominant: Es ist die Kirche, die den katholischen König autorisiert. Im protestantischen Europa hingegen wird die Mutter-Vater-Beziehung dominant, und dort ist es der König, der die Kirche autorisiert. Accati diskutiert diese Entwicklung auf der Ebene der Familienstrukturen sowie im sozialen und politischen Bereich.
Im Ganzen eröffnet Accatis Buch eine Fülle historischer Einsichten auf der Basis der Zusammenführung anthropologischer, kunsthistorischer und psychoanalytischer mit historischen Herangehensweisen. Es stellt Anforderungen, indem keine leichte Kost geboten wird, sondern komplexe Argumentationszusammenhänge entfaltet werden, denen zu folgen einen seltenen intellektuellen Genuß bedeutet.