Genozid und Geschlecht
Jüdische Frauen im nationalsozialistischen Lagersystem

Gisela Bock hat mit dem Sammelband 'Genozid und Geschlecht' ein Buch vorgelegt, das einige Beiträge der internationalen Konferenz 'Genocide and Gender: Jewish Women in the Concentration Camp System. Current Research on Victims, Agents and Survivors of the Holocaust' aus dem Jahr 2003 beinhaltet.
Der Titel weckt anfängliche Erwartungen, die nur zum Teil erfüllt werden können, da der Leser keine umfassende Studie zu dem weiten Feld von 'Genozid und Geschlecht' erwarten darf. Die hier aufgenommenen Beiträge widmen sich sehr eingegrenzten Themenbereichen und können damit nur als Anstöße zu weiteren, tiefergehenden Studien gewertet werden. Alle Autoren stützen sich bei ihrer Arbeit überwiegend auf autobiographische Zeugnisse von jüdischen und nichtjüdischen weiblichen Überlebenden des Holocaust. Dabei versuchen sie anhand der literarischen Texten unterschiedliche Schicksale und spezifische Holocausterfahrungen von Frauen in unterschiedlichen nationalsozialistischen Lagern (darunter das frühe Lager Moringen, das KZ Ravensbrück und das Vernichtungslager Auschwitz) zu beleuchten. Die Auswahl der zugrunde gelegten Zeugnisse umfaßt alle Phasen der Holocaustliteratur zwischen 1945 und der Gegenwart.
So fragt Linde Apel in ihrem Beitrag 'Judenverfolgung und KZ-System: Jüdische Frauen in Ravensbrück' nach den Gründen, warum Frauen dort inhaftiert wurden, wie sie versuchten, im Gewaltverhältnis zu bestehen und wie sie überleben konnten (S. 44).
Die Phänomenologie eines ethischen Netzwerkes steht im Mittelpunkt der Untersuchung von Hanna Herzog und Adi Efrat. Sie beschäftigen sich mit einer Gruppe von griechischen Frauen im KZ Ravensbrück und kommen zu dem Schluß, daß 'soziale Bindungen und gegenseitige Unterstützung nicht einfach verschwanden, sondern von den Frauen geradezu als Grund für ihr Überleben angegeben' (S. 100) werden.  
Constanze Jaiser wählt für ihre Untersuchung zu Sexualität und Gewalt in frühen Zeugnissen jüdischer und nichtjüdischer Überlebender einen hermeneutischen Zugang 'bei dem die Texte selbst als Interpretationen, als Analysen von Subjekten gelesen werden sollen' (S. 123). Dabei kann sie u.a. die unterschiedlichsten Facetten von 'Liebesbeziehungen' (S. 129) bis zu 'Prostitution als Warenaustausch' (S. 129) nachweisen.
Der Aufsatz von Irith Dublon-Knebel soll hier besonders hervorgehoben werden, da sie eine Täterin, die SS-Aufseherin Luise Danz, in den Mittelpunkt ihrer Arbeit stellt und deren Laufbahn 'von der unerfahrenen Aufseherin' (S.79) bis zur 'machtvollen Rapportführerin von Auschwitz' (S. 79) anhand von Zeugnissen Überlebender nachzuzeichnen vermag.
Abgeschlossen wird der Tagungsband von Christa Schikorra und Sabine Kittel, die das Überleben und das 'weiter leben' (Ruth Klüger 1992) von Jüdinnen in der Tschechoslowakei und den USA beleuchten. Schikorra taucht ein in das von den Frauen immer wieder erlebte Spannungsfeld, in dem 'der Verlust von Familie und letztlich auch der Heimat ein durchgehendes Motiv in den Berichten der Frauen' ist (S. 228) und der von ihnen erlebten 'Unmöglichkeit, sich ein neues Leben aufzubauen' (S. 230). Sabine Kittel geht anhand von Interviews u.a. der Frage nach 'wie die einstigen Häftlinge es geschafft hatten, nach dem radikalen Verlust von Subjekthaftigkeit eine ‚Normalität‘ zu entwickeln' (S. 240) und stellt stellvertretend drei Lebensgeschichten vor.
Der Band nimmt durchgängig einen historischen Blickwinkel ein, doch kann er zugleich als wichtiger Hintergrund bei der Beschäftigung mit literarischen Zeugnissen weiblicher Holocaustüberlebender empfohlen werden.