Der Band versammelt sozusagen die schönsten Stellen aus dem Werk des großen Atheners, all jene Partien, die man kennen sollte, wenn man Europäer sein will. Sie gehören zu dem Erbe, das unsere abendländische Identität ausmacht.
Josef Werle schreibt ein hochkompetentes Vorwort, man spürt überall, daß er der Originalsprache mächtig ist und seinen Platon so verstanden hat, daß er ihn lebenspraktisch bedeutsam zu lesen versteht. Es geht immer um uns heute und um den Ertrag der Sokratisch-Platonischen Reflexion für unser Leben; Nietzsches 'Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben' steht Pate: wir brauchen eine Vergangenheitserinnerung, 'die dem Leben dient'. Ins Zentrum stellt Werle den Begriff Bildung. Sie kann nicht (allein) als Besitz gedacht werden (etwa im Sinne der alten bildungsbürgerlichen Formel von Besitz und Bildung, die dann in Halbleder im Eichenbücherschrank ruht, Bildung ist primär Prozeß, der täglich stattfindet, lebenslänglich dauernd. 'Nur der verdient sich Bildung wie das Leben, der täglich sie erobern muß', wie Goethes Faust bekanntlich sagt.
Konkrete Stücke von Bildung, die als Ganzes nie völlig festgestellt werden kann, sind u.a. die Einsicht in die Unbestimmbarkeit des Wissensnötigen. Wir reden heute gerne davon, daß die Sachen performativ auszuhandeln sind, Werle formuliert: 'die Philosophie im Vollzug und in Bewährung zu zeigen'; es gibt ein Wissen um die Nichtwissbarkeit, die mehrfach fundiert ist: einmal ist die prinzipielle Unfähigkeit der Sprache, die Sache selbst wirklich und ein für alle Mal festzuhalten, von Platon erkannt. Bei ihm gibt es einen tiefen Zweifel an der Kraft der Sprache; im einschlägigen 7. Brief spricht er ausdrücklich von der 'Ohnmacht der Sprache' Menschliche Äußerungen sind immer Näherungen, Ansichten, Abschattungen: sie haben das Ganze nicht ganz. Unsere Erkenntnis ist Stückwerk, Vermutung, mehr oder weniger plausible Gewißheit.
Mit Buddha, mit Jesus gehört Sokrates zu den schriftlosen Größen in der Geschichte des Denkens; übrigens vertreten islamische Gelehrte ähnliche Positionen, wenn sie die Übersetzbarkeit des Korans bestreiten, allenfalls dessen Bedeutung könne übertragen werden. Eine Folge dieser linguistischen Situation ist bei Platon, daß es 'viele offene und vielfach deutbare Passagen gibt: man muß sich hüten, in allen Fällen eine bis ins Letzte durchgearbeitete terminologische Schärfe zu erwarten. An manchen Stellen muss man seine Lehre unbestimmt lassen' (Werle). So muß man auch Platons Schriften in ihren wechselnden Phasen als Versuch verstehen, 'in immer neuen Zugängen und Perspektiven die wirklich wichtigen Fragen zu thematisieren' (Werle). Anders auch: das Sokratische scio quod non scio [ich weiß, daß ich nichts weiß], das 'Wissen um das Nichtwissen', gehört zum Denksystem: was keine postmoderne Mentalität des anything goes bedeutet. Die Skepsis ist nur die eine Seite, Sokrates 'orientiert sein Handeln an Richtlinien, die für ihn selbst unverrückbar feststehen' (Werle). Das Nichtwissen und die Skepsis, z.B.: darüber, ob der Tod ein Gut oder ein Übel ist, bedeuten nicht eine 'tragende Grundhaltung'. Sokrates bestimmt: es ist die 'Eigenverantwortlichkeit des Menschen', die griechische Selbstsorge (epimeleia heautou), die mit der Selbsterkenntnis (episteme heautou) zusammenhängt. Für Sokrates gilt, 'daß es das größte Glück für den Menschen ist, sich Tag für Tag über die Tugend zu unterhalten [...] und daß ein Leben ohne Prüfung und Erforschung nicht lebenswert sei'. Ein Problem ist dabei für das griechische Denken, ob die Tugend, das richtige Leben, das zugleich ein glückliches wäre, auch lehrbar ist: Sokrates schwankte wohl in seinem Denken; man darf vermuten, daß bei diesem Thema auch dies mitspielt: die Tugend - wie immer als Material inhaltlich ausdifferenziert oder nur formal-abstrakt ausformuliert - wird wohl lehrbar, referierbar sein: aber die es hören sollen, haben verstopfte Ohren und wollen das, was sie selbst sogar für richtig halten, doch nicht tun. Wie sagt doch Hessens zu Unrecht vergessener Alfred Bock in einer seiner herrlichen Erzählungen von der Magd, die zur alleinerziehenden Mutter wird: 'die Mädchen wissen es und sagen, wenn sie ausgehen: ich tu es nicht. Dann aber tun sie es doch!' Auch Goethes Gretchen wußte es. Aber 'alles, was sie dazu trieb, war ach so schön, war ach so lieb'.
Der athenische Meisterdenker sieht in seiner Zeit eine 'Orientierung an falschen Zielen' (Werle), immer mehr persönlicher Besitz wird erstrebt, eine soziale Bindung nicht akzeptiert. Je mehr er hat, je mehr er will; die Griechen hatten dafür das Wort 'pleonexia': 'das Mehrhabenwollen, die Habsucht, der Eigennutz, die Selbstsucht, der Geiz, die Vergrößerungssucht' (o, wer hört hier nicht die Nachtigal trapsen), auch 'die Anmaßung' ' man denkt an Ackermann -, 'die Herrschsucht, der Übergriff, die Übervorteilung, der Betrug': alles Bedeutungen, die das Wörterbuch anbietet. Dazu gibt es natürlich auch ein Verbum: 'pleonekteo'. O tempora, o mores, o prophetischer Platon!
Bildung ist heute die Einsicht in die dialogische Struktur von Wahrheit; sie wächst uns zu im Gespräch, in der Unterredung, in der Abstimmung mit den Anderen, in der Ich-Du-Korrelation oder gar Synthese, Dialog kann aber auch in einer unversöhnten Streitkultur bestehen. Sokrates hat es mit den bösen Sophisten und den fast genauso bösen Rhetorikern zu tun, ihnen gegenüber muß er sein ethisch ausgerichtetes Denken und Handeln durchsetzen. Kallikles vertritt eine hedonistische Position der Lust: 'Nun, das naturgemäße Schöne und Gerechte ist das [...] Wer richtig leben will, muß seine Begierden so groß wie möglich werden lassen, ohne ihnen einen Zügel anzulegen.' So wird Schillers Franz von Moor reden, ein verdorbener Nihilist und Materialist, ein Jünger des perversen Marquis der Sade. Sokrates bleibt hier ruhig, er plädiert für die Bändigung der wilden Seele, die von den Anthropologen der Aufklärung gefordert wird, für die Einkerkerung des wilden Tiers in unserer Brust, das der katholische Eichendorff am Ende seiner Novelle vom Schloß Durande drohen läßt: ich aber Sokrates meine, 'ein maßvolles Leben sei besser als ein zügelloses'. Damit plädiert der Hellene global. Die Ägypter kennen die 'maat', die Hebräer den 'mischpat', seine griechischen Landsleute die 'mesotes', unsere mittelhochdeutschen Ritter redeten von: 'diu mâze'. Im Husserlschen Sinne wohlverstanden wird hier immer dasselbe gemeint, bei allen Differenzen im Konkreten. Es geht um die Kenntnis des Guten, 'to agathon'.
Man darf dem Verlag Goldmann gratulieren, daß sein Lektorat noch Chancen sieht für Bücher dieser Art; man darf annehmen, daß sie es in dieser Welt schwer haben und im kulturellen Rummel leicht untergehen.