Übungen für Anfänger
Schillers Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen

Gleich zu Beginn der l. Sitzung am 4. November 1936 wird deutlich, wer das Seminar leitet; der Meister bestimmt mit strenger Hand: 'Wir verzichten zunächst darauf, Schiller geistesgeschichtlich einzuordnen, zu erzählen, woher er kommt und wodurch er bestimmt ist. Wir wollen vielmehr sofort die Briefe durchfragen, nicht mit einer allgemeinen historischen Absicht, um zu wissen, was damals vor sich ging, sondern wir fragen für uns und d. h. für die Zukunft.' Heidegger liest in diesem Semester zugleich über Nietzsche, dessen 'Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben' steht Pate. Die apodiktische Seminaratmosphäre, Heidegger als Lenker und Leiter, wird auch sonst deutlich (etwa, wenn bestimmt abgelehnt wird, daß 'Kunst auf das Kind' wirke. Ein Spagat, der hier zu vollbringen ist: denn zugleich will Heidegger zeigen, was philosophieren ist. Und hier wird zentral das gemeinsam fragende, erörternde Gespräch.
'Dabei ist es selbstverständlich, daß wir Schiller lesen; uns sozusagen in seiner Atmosphäre bewegen, nicht nur seine dichterischen Werke vernehmen, sondern auch seine Schriften über die Kunst, insbes. seinen Briefwechsel mit Goethe.' Heidegger geht aufs Ganze; er sieht in den 'Briefen über die ästhetische Erziehung' den 'Versuch, die Geschichte des Menschen neu zu gründen!' Das ist mutig; Marquard weist in seinem Nachwort darauf hin, daß dort, wo revolutionäre Erwartungen enttäuscht werden - und Heidegger war, wenn auch anfangs schwächer, von den Nationalsozialisten enttäuscht -, die Hoffnung auf die Kunst gesetzt wird. 'Die Kunst ist allgemein [bei Schiller] in Zusammenhang gebracht mit der Erziehung des Menschen. Die Kunst ist danach ein Erziehungsmittel.' 'Worin besteht der eigentliche Kern dieser Briefe?: [sic!] Daß der Mensch aus der Sinnlichkeit übergeführt wird in den ästhetischen Zustand, um dann frei zu handeln. Dieser Übergang vom sinnlichen zum ästhetischen Zustand ist das Entscheidende!' Zumindest der Protokollant läßt hier einen Schritt aus: die These des Stofftriebs, die Sinnlichkeit, wird zunächst ergänzt durch ihre Antithese, den Formtrieb, die Vernunft, Dionysos und Apoll treten gemeinsam, aber gegeneinander, auf. Erst ihre gewünschte und erhoffte Synthese brächte jenen Zustand der Freiheit in der Erscheinung, mit Kant in der 'Grundlegung zur Metaphysik der Sitten' die 'Freiheit des Willens als Autonomie', d.i. 'die Eigenschaft des Willens, sich selbst ein Gesetz [im Spiel] zu sein'. Heidegger selbst geht diesen dichotomen, stereotypen Weg. 'Es handelt sich im 19. Brief darum, die zwei Bestandstücke des Menschen (Sinnlichkeit - Vernunft, Empfinden - Denken) zusammenzubringen.'
Der 'ästhetische Zustand sei der mittlere, so heißt es, er ist die Synthese.' Damit wird ein ehrwürdiges, metaphysisch-alteuropäisches Muster erinnert und aktiviert: die Mitte als das Maß, als mesotes. Das dichotome, stereotype, idealtypisierende Denken, dem auch Schiller sonst zuneigt (sentimentalisch-naiv, Anmut-Würde, Mann-Frau, Stofftrieb-Formtrieb, Antike-Christentumszeit, denken- empfinden: so schon Herder und später dann Nietzsche: Dionysos-Apoll, usw.), die These und die Antithese, werden in die Synthese des Spiels als der Oase des Glücks (E. Fink) evolutionär entwickelt.
Heidegger kann dabei immer wieder Akzente setzen, wenn auch, herrlich frisch, bekannte altdeutsche Kulturkritik: wir müssen 'dieses konstruktive Denken wieder erlernen'. Er meint damit die transzendentale Reflexion, die das Notwendige sieht. 'Wir rechnen nur noch.' Altdeutsch: Goethe hatte das Motiv schon in 'Wilhelm Meisters Lehrjahre' intoniert in der Kontroverse zwischen dem Kaufmann Werner, der nur rechnet und dem Künstler Wilhelm; Adorno wird es weiterführen. Hier berühren sich die Extreme oder die Kritiker: Adorno, der den Heideggerschen 'Jargon der Eigentlichkeit' moniert, hat mehr Konvergenzpunkte mit dem Kritisierten, als er selbst zu sehen in der Lage ist.
Die verdienstvolle Ausgabe der Deutschen Schillergesellschaft ermöglicht jedenfalls für die Nachgeborenen einen konkreten Blick in den Seminaralltag in Freiburg - und das ist nicht das Geringste ihrer Verdienste.