Europa im späten Mittelalter 1250 - 1500
Eine Kultur- und Mentalitätsgeschichte

Das in der von Peter Dinzelbacher begründeten Reihe 'Kultur und Mentalität' erschienene Buch von Johannes Grabmayer widmet sich der Darstellung des späten Mittelalters. Der Band ist in fünf Hauptkapitel aufgeteilt, dem ein Prolog vorausgeht. Die einzelnen Überschriften lauten:
I. Die Gesellschaft im Spätmittelalter; II. Herrschaft im Wandel; III. Die Einstellung zum Ich; IV. Die Einstellung zum Wir; V. Mensch und materielle Umwelt.
Im Prolog betont Grabmayer, daß seine Darstellung auf die Umbrüche und Veränderungen innerhalb der spätmittelalterlichen Epoche ausgerichtet ist, wobei zugleich aber der Begriff des späten Mittelalters problematisiert wird, da er zu sehr die Assoziationen von Krise und Verfall weckt, die in der älteren Forschungstradition noch genährt wurde (prominentes Beispiel: Huizinga, Herbst des Mittelalters). Der Begriff der 'Neuen Kulturgeschichte' wird von ihm eingeführt als ein Metabegriff für 'historisch-anthropologische, kulturwissenschaftliche Strömungen innerhalb der Geschichtswissenschaft'. Diesem Metabegriff läge ein neues Verständnis von Kultur zugrunde, das aus der Rezeption der Werke Webers, Simmels und Cassirers entstanden sei und in der Darstellung zu einer Wiederaufwertung des Erzählens führe.
Wie schon an den aufgeführten Überschriften zu sehen, behandelt Grabmayer nahezu alle Themen mittelalterlichen Lebens. Vor allem die Entwicklungen und die Veränderungen innerhalb der Stadt liegen Grabmayer am Herzen. Überhaupt scheint für das Paradigma der Veränderung, das er sich auf die Fahnen geschrieben hat, die Stadt der bestimmende Ort zu sein. Einen zweiten Fokus legt der Autor bei seinen zum größten Teil deskriptiven Darstellungen auf die Differenzierung in die sozialen Gruppen und Schichten.
Nur gelegentlich durchbricht Grabmayer die deskriptive Perspektive, die er mit unterhaltsamen und einschlägigen Einzelbeispielen zu unterfüttern weiß und kommt zu einer Thesenbildung bzw. nimmt Stellung zur bisherigen Forschung. So wendet er sich in dem Kapitel 'Die Einstellung zum Wir' etwa explizit gegen die als erstes von Phillip Aries vorgetragene These, daß es erst im 17. Jh. emotionale Eltern-Kind-Beziehungen gegeben hätte. Bestimmte Themen werden von Grabmayer sehr viel differenzierter behandelt als andere, so z. B. die Entwicklung der Moden und die Rezeption von Kleidungstrends im Kapitel 'Die Gesellschaft im Spätmittelalter'. Analog zu der unterschiedlichen und nicht begründeten Gewichtung bestimmter Themen ist auch der sehr auffallende Unterschied in der Kapitellänge zu nennen. Während 'Herrschaft im Wandel' auf sieben Seiten abgehandelt wird, nimmt z. B. das erste Kapitel stattliche 29 Seiten ein. Zwar ist der Band explizit auf eine kulturgeschichtliche Sicht der spätmittelalterlichen Epoche ausgerichtet, allerdings hätte auch aus einer solchen Perspektive mehr und Eingehenderes zu Herrschaftswandel gesagt werden können als ein kursorischer Überblick über Allgemeinplätze der Forschung. Negativ fällt weiterhin auf, wie unkritisch und fahrlässig Grabmayer mit den Quellen verfährt. Oft begründet er sehr pauschale und weitgehende Aussagen mit Hinweisen auf eine Quelle, die nicht in ihrem Kontext dargestellt wird. Beispielsweise wird auf die hohe Zahl der sexuellen Übergriffe hingewiesen und von staunenswerten Ereignissen berichtet wie der Niederkunft einer Siebenjährigen. Dabei ist allerdings zu fragen, inwieweit hier übertrieben wird und man nicht eher nach der Funktion solcher Schilderungen fragen muß, möchte man die Mentalität der Epoche erforschen.
Ein kritischerer Umgang mit solchen Quellen wäre angezeigt gewesen. Auch die Schlußfolgerung von Grabmayer, daß die Delinquenz im Bereich der Sexualstraftaten höher gelegen haben müsse, steht auf tönernen Füßen. Man muß sich im Gegenteil fragen, ob die erwähnten Übergriffe überhaupt einer Erwähnung für wert gehalten würden, wenn sie sich in eine lange Kette von ähnlichen Straftaten eingereiht hätten. Allzu pauschale Urteile und Skizzen des Zusammenlebens finden sich in diesem Zusammenhang: '...einem Zeitalter [gemeint ist das späte Mittelalter, der Verf.], in dem die Gefühlswelt der Menschen durch Affektivität und Spontaneität gekennzeichnet ist, in der sexuelle Enthemmung durch übermäßigen Alkoholgenuss von Frauen und Männern, Kindern wie Halbwüchsigen zusätzlich gefördert wird...' (S. 75).
Auffällig ist weiter die reiche Bebilderung des Bandes, die allerdings leider nur illustrativen Charakter hat. Der Autor bindet die Abbildungen an keiner Stelle nennenswert in seine Abhandlung ein oder interpretiert sein Material. So bleibt der Eindruck einer gewissen Beliebigkeit und Buntheit zurück, die eigentlich nur ein erfahrener und vorgebildeter Leser recht ordnen kann.
Insgesamt ist dieses als Kultur- und Mentalitätsgeschichte apostrophierte Werk ein Überblick, der sehr pauschal und eigentlich nur deskriptiv gehalten ist. Die theoretischen Annahmen des Vorworts werden weder im Buch breit angesprochen noch durchgehalten, auf Wandel wird nur an wenigen Stellen explizit eingegangen. Die Tendenz, Einzelbeispiele als Beleg für weitgehende Aussagen zu nehmen, ist zu stark. Stellenweise finden sich gute Worterklärungen und verständliche Darstellung der Lebenswelt der Epoche. Dem nicht vorgebildeten Leser ist es allerdings nur im Verbund mit einer tiefergehenden Darstellung zu empfehlen. Auch seinem Titel wird der Band nicht gerecht. Die Beispiele stammen weitgehend aus dem Reich oder aus dem angrenzenden Gebieten, keinesfalls wird durchgängig eine europäische Perspektive eingenommen oder durchgehalten.